Ganz die Deine
hatten.
Der Reißverschluss des Plastiksacks wurde aufgezogen, und der Raum erfüllte sich mit dem Geruch der toten Alicia. »Leichnam in weit fortgeschrittenem Verwesungszustand«, diktierte der Arzt dem Assistenten, der Notizen für die Abfassung des Obduktionsberichts machte. Der Arzt untersuchte den Körper. Zunächst äußerlich: Ließen sich Traumata feststellen, Schnittwunden, Schusslöcher? Bei einem so stark verwesten Leichnam ein schwierig durchzuführendes Unternehmen, mochte es auch noch so oft eingeübt worden sein; zudem, was die Sache nicht einfacher machte, offensichtlich sinnlos, da alles darauf hindeutete, dass es sich um einen Tod durch Ertrinken gehandelt hatte. Reine Routine also. Er drehte den Leichnam um und setzte die Untersuchung fort. Etwas fiel ihm auf: »Blutansammlung im Bereich der oberen Wirbelsäule«, diktierte er seinem Assistenten. Er tastete den Hals ab, in auf- und absteigender Richtung. Und fügte hinzu: »Fraktur des sechsten und siebten Halswirbels mit fast völliger Separation der Bruchteile, Austritt von Knochenmark.« Er drehte den Leichnam wieder auf den Rücken und griff zum Skalpell. Offenbar war doch nicht alles so eindeutig an diesem toten Körper. Er zeichnete ein Ypsilon auf seiner Oberfläche, darauf bedacht, Alicias Brüste unversehrt zu lassen. Anschließend übergab er das Skalpell seinem Assistenten und klappte die Haut zur Seite. Der Assistent reichte ihm die Elektrosäge, und der Arzt schnitt den Brustkorb auf, durchtrennte das Brustbein, bog die Schlüsselbeine zur Seite und drang bis zur Brust vor. Der Assistent machte sich daran, die Eingeweide zu entfernen. Er hob sie in einem Bündel heraus, entwirrte sie, um sie messen und wiegen zu können. Zuerst die Lunge. Es stellte sich heraus, dass Alicia nicht ertrunken war. »Kein Anzeichen von aufgeblähten Lungenflügeln«, diktierte der Arzt.
Der Assistent nahm heraus, was noch übrig war. Als die Gebärmutter an die Reihe kam, schnitt er sie wie vorgesehen durch, die Teile waren einzeln in Formaldehyd zu konservieren. Doch nach dem ersten Schnitt zögerte er, und beim zweiten wurde er vorsichtiger. Den dritten Schnitt führte er nicht aus – stattdessen rief er den Arzt herbei. Dieser kam, öffnete das Organ entlang dem Schnitt, besah sich sein Inneres und nickte. Anschließend diktierte er: »Möglicherweise lag eine Schwangerschaft vor, ungefähr im Stadium der zwölften Woche.«
Sie füllten den Körper mit Stoff aus, nähten vorsichtig alles wieder zu und wuschen ihn.
Der Reißverschluss wurde zugezogen, und der Leichnam Alicias verschwand wieder im Kühlfach.
31
Ernesto wartete im Zimmer. Ich ging den Werkzeugkasten holen. Als ich mit dem Kasten in der Hand die Treppe hinaufstieg, hatte ich ein seltsames Gefühl, als spielte ich in einem Film mit und die Kamera folgte jedem meiner Schritte auf der Treppe. Ich, die Heldin, angestrahlt von den Scheinwerfern, im Zentrum der Leinwand. Innerlich hörte ich sogar die passende Musik dazu. Wirklich komisch. Aber es gefiel mir auch, ich kam mir wichtig vor, ich war dabei, etwas zu tun, wovon die Zukunft meiner Familie abhing. Und das verschaffte mir eine Sonderstellung, auf einmal stand ich an dem Platz, von dem aus über das Schicksal der anderen entschieden wird. Manche Menschen gehen durchs Leben, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Eine deprimierende Vorstellung. Meine Mama zum Beispiel. Alles, was sie in ihrem Leben getan hat, war, meinen Vater zu hassen, und das hinterlässt nur Spuren in einem selbst. So viel ich auch darüber rede – es war doch ihr Leben, und darin drehte sich alles nur um ihren Mann. Ich blieb davon ausgeschlossen. So wie Lali. Hätte Mama ihn umgebracht, wäre es etwas anderes gewesen, aber so war sie einzig und allein mit ihrem Hass beschäftigt. Und was mich betrifft: Wäre es nicht zu dem Unfall mit Alicia gekommen und allem, was daraus folgte, wäre auch ich praktisch unbemerkt durchs Leben gegangen. So aber stieg ich wie eine Königin die Stufen empor, im Arm die Gabe für die Götter, die mich am Altar erwarteten, soll heißen: den Werkzeugkasten für Ernesto oben im Zimmer.
Als ich hineinkam, saß Ernesto auf dem Bett. Ich stellte den Werkzeugkasten vor ihm ab und setzte mich neben ihn. Das war eigentlich schön. Wir beide nebeneinander auf dem Bett, gemeinsam mit etwas beschäftigt. So wie damals, als wir noch jung waren und uns zusammen Fotos ansahen oder einen ganzen Vormittag nur mit Zeitungslesen zubrachten.
Weitere Kostenlose Bücher