Ganz die Deine
das, er sagte mir zwar nicht, was sie an jenem Abend gemacht hatte, aber er wusste, dass sie kein Alibi hatte. Außer sie erfand eins, so wie wir. Aber sie hatte niemanden, der sie bedingungslos deckte und beschützte. Ernesto schon, er hatte mich.
In dieser Nacht schlief ich gut. Wir liebten uns nicht, Ernesto war zu müde. Aber ich war glücklich, wir hatten so viel zusammen erlebt, waren uns so nahe gewesen, das war wichtiger als irgendwelche heißen Liebesnächte, die er am Wochenende mit Charo gehabt hatte. Wenn zwei Menschen zusammenfinden, wie es uns gelungen war, ist nicht ausgeschlossen, dass die Verbindung ein ganzes Leben hält. Während noch die stärkste sexuelle Anziehung ihr Ende in einem Orgasmus findet. Und den möchte ich sehen, der anschließend mit der gleichen Begeisterung weitermacht.
Am Morgen ging Ernesto früh aus dem Haus, um im Polizeikommissariat 31 seine spontane Aussage zu machen. So hatten wir es besprochen. Er wollte nicht, dass ich mitkam. »Ich möchte dich so weit wie möglich aus der Sache raushalten.« Ich übergab ihm den Werkzeugkasten, und er zog los. Er war so aufgeregt, dass er nicht einmal bei Lali vorbei sah, um ihr einen guten Morgen zu wünschen. Wirklich seltsam, aber besser so: Lali hatte nicht zu Hause übernachtet. Bestimmt war sie wieder bei ihrer Freundin und hatte nicht Bescheid gesagt. Doch Ernesto wäre nur noch nervöser geworden, wenn er es bemerkt hätte.
Keine fünf Minuten nachdem er gegangen war, wurde ich selbst von einer unerträglichen inneren Unruhe erfasst. Es war schier nicht auszuhalten. Im selben Moment, in dem über mein gesamtes zukünftiges Leben entschieden wurde, saß ich zu Hause wie an einem ganz normalen Tag und sollte entscheiden, ob ich frische Laken aufzog oder sie nicht doch noch ein paar Tage so bleiben konnten.
Ich bestellte ein Taxi und ließ mich zum Kommissariat bringen. Auch wenn ich mich mit der Rolle eines Voyeurs bescheiden musste, wollte ich doch aus sicherem Versteck in der Nähe meinen Sieg über Charo feiern. Beziehungsweise unseren Sieg, schließlich waren Ernesto und ich wieder ein Team. Zu meiner Verwunderung konnte ich Ernestos Auto nirgendwo entdecken. Dabei zahlt er nur ungern für ein Parkhaus oder einen bewachten Parkplatz. Ich näherte mich vorsichtig dem Eingang zum Kommissariat und sah mich unauffällig um. Von Ernesto keine Spur. Vielleicht legte er gerade seine Aussage ab. Niemand fragte mich, was ich dort machte, ob man mir helfen könne oder etwas in der Art, aber ich wollte die Gleichgültigkeit der diensthabenden Beamten nicht überstrapazieren, weswegen ich mir ein diskretes Plätzchen suchte, von wo aus ich ungestört beobachten konnte. Das tat ich eine volle Stunde lang, ohne dass etwas geschah. Mir fielen verschiedene mögliche Erklärungen ein, ich hatte aber kein Papier dabei, um mir ein Schaubild aufzuzeichnen, also entwarf ich eins im Kopf.
Variante 1
Ernesto macht gerade seine Aussage, und das dauert, weil bei der Justiz immer alles lange dauert.
Variante 2
Ernesto macht gerade seine Aussage, und das dauert, weil jemand misstrauisch geworden ist und man ihn dort behält.
Variante 3
Ernesto hatte ein Problem mit dem Auto und kommt zu spät.
Variante 4
Ernesto ist eingefallen, dass er noch etwas im Büro zu erledigen hatte, weshalb er die Aussage auf später verlegt hat.
Variante 5
Ernesto kommt gerade.
Das war eigentlich keine Hypothese, sondern genau das, was jetzt vor meinen Augen geschah: Gerade als ich über eine fünfte Möglichkeit nachdenken wollte, kam Ernesto angefahren. Variante eins und zwei schieden damit automatisch aus, und ob er nun aufgrund von Variante drei oder vier zu spät kam, spielte keine Rolle mehr – was zählte, war Variante fünf: Ernesto war da.
Er parkte an der Ecke und stieg aus. Aber er war nicht allein, auf der Beifahrerseite entstieg dem Wagen ein schlanker, groß gewachsener grauhaariger Mann. Jemand, den ich irgendwoher kannte – aber woher? Gemeinsam überquerten sie die Straße. Ernesto ging ein paar Schritte voraus, als wollte er dem anderen den Weg zeigen. Den Werkzeugkasten hatte er nicht dabei. Bevor sie hineingingen, ordnete der Mann seine Frisur vor dem Rückspiegel eines Streifenwagens. Dabei konnte ich ihn mir genauer ansehen. Und da fiel mir auch sein schwarzer Schnurrbart auf. Ich spürte etwas Süßes im Mund, und auf einmal war mir alles klar. Es war der Kellner, der mir an dem Tag, als ich in Alicias Wohnung gewesen war, den
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