Ganz oder gar nicht (German Edition)
nach wie vor mit mir unterwegs. Es steht in Budapest in der Ankleide meiner Wohnung: ein alter Stuhl aus hellem Holz, den ich damals in 28 Stunden aus lauter Einzelteilen wie Ziernägeln, hellgrünem Stoffbezug, Polstern, einzelnen Federn und Nesseln zusammenbauen musste. Und wenn ich für den nächsten Trainerjob mal wieder umziehe, kann ich immer noch viel von dem, was ich in der Ausbildung gelernt habe, anwenden. Ich kann einen Teppich verlegen, ich kann Gardinen und Vorhangstangen anbringen, ich kann einen Sessel aufpolstern, ich kann mit Hammer, Nagel, Säge und Schraubenzieher umgehen. Nur Lampen fasse ich nicht an, weil ich großen Respekt vor Strom habe.
Es war ein früher Sprung ins Berufsleben, was mir im ersten Lehrjahr 250 Mark pro Monat einbrachte. Mein Tagesablauf verschärfte sich, ich arbeitete von sieben Uhr morgens bis nachmittags um vier. Dazu kamen der Zeitungsjob und das Fußballtraining. Es blieb nicht viel Zeit für andere Dinge. Aber ich habe versucht, die Zeit zu genießen. Ich ging abends aus, hatte Spaß mit meinen Freunden, gönnte mir Discobesuche. Mein Leben war nicht langweilig. Ich habe, was ja oft bei früh erfolgreichen Sportlerkarrieren vermutet wird, auch nichts verpasst. Ich habe meine Jugend so gelebt, wie ich sie leben wollte.
ABSCHIED VON DER HEIMAT
Über viele Jahre blieb mein fußballerisches Talent ein regionales Geheimnis. Aber zum Glück gab es da Hans Nowak. Hans Nowak war ein ehemaliger Nationalspieler. Er stand beim FC Bayern, bei Schalke und in Offenbach unter Vertrag. Als ich in der Jugend des FC Herzogenaurach spielte, arbeitete er für Puma als Chef der PR-Abteilung. Und weil Puma meinen Club traditionell unterstützte, stand auch Nowak am Wochenende oft auf dem Platz und sah, was ich konnte. Mein Vater interessierte sich zwar immer dafür, wie viele Tore ich jetzt schon wieder geschossen hatte, aber er kam so gut wie nie zu den Ligaspielen. Er meinte mal, dass er sich ferngehalten habe, weil er zu emotional auf Fehlentscheidungen der Schiedsrichter reagieren würde. Mit einer Horde anderer Empörter hatte er mal einen Schiedsrichter vermöbelt.
Mit dem FC Herzogenaurach spielten wir in allen Ligen oben mit, auch wegen der Unterstützung durch Puma. Wir galten nicht als Eliteclub, aber doch als ernst zu nehmender Underdog, der mit den Favoriten aus Nürnberg und Fürth auf Augenhöhe war. In der letzten Saison, die ich für Herzogenaurach spielte, war ich nicht allein einmal mehr der Top-Torjäger: Wir stiegen sogar von der Landesliga in die Bayernliga auf.
Da war ich siebzehn. Der Zeitpunkt schien gekommen, endlich. Ohne dass man ihn gefragt hätte, nahm Hans Nowak Kontakt auf mit Helmut Grashoff, dem Manager von Borussia Mönchengladbach, und sagte ihm, dass hier im Dorf ein sehr guter Spieler sei, der bisher in den Lehrgängen übersehen wurde. Umgehend wurde ich zum Probetraining an den Niederrhein gebeten.
Genauso ist übrigens auch mein Kontakt zur Jugendnationalmannschaft zustande gekommen. Dietrich Weise, der damalige Jugendnationaltrainer, wurde von Puma auf mich aufmerksam gemacht. Ich durfte am nächsten Sichtungslehrgang der U18 teilnehmen, überzeugte und war schon beim nächsten Länderspiel dabei.
Nun also Mönchengladbach – ein Traum. Vier Tage sollte ich bleiben und zeigen, was ich draufhabe. Mein Vater begleitete mich, und schon nach dem ersten Tag bestellte uns Helmut Grashoff in sein Büro. Da lag doch tatsächlich ein Vertrag auf dem Schreibtisch. Mein Vertrag, unterschriftsreif! Unglaublich! Ich sollte 2 500 Mark brutto plus leistungsbezogene Prämien verdienen! Später erfuhr ich, Berti Vogts habe sich dafür stark gemacht, da ich Eindruck auf ihn gemacht habe. Er soll zu Grashoff gesagt haben: »Biete ihm was an, sonst schnappt ihn uns noch ein anderer Verein weg.« Warum Vogts? Mein Probetraining hatte ich bei den Reservisten verbracht und musste unter anderem gegen Berti antreten, der sich von einem Waden- und Schienbeinbruch erholte. In den Zweikämpfen habe ich ganz gut ausgesehen, und so wurde der Mann zum Fürsprecher, der elf Jahre später mein Bundestrainer sein sollte.
Die Tragweite dieses Ereignisses war mir nicht bewusst. Wie konnte ich ahnen, dass dies der entscheidende Schritt auf dem Weg zum Weltmeister und Weltfußballer sein würde. Daher stellten mein Vater und ich eine wichtige Bedingung: Ich muss meine Lehre als Raumausstatter abschließen können. Für Grashoff war das kein Problem, handelte es sich dabei
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