Ganz oder gar nicht (German Edition)
sich alle in einer Art Sitzungssaal, in dem die 22 Auserwählten bekannt gegeben wurden. Wie sehr wartete ich darauf, meinen Namen zu hören! Ich hatte sehr gut gespielt und viele Tore geschossen. Vergeblich. Der Cheftrainer der Bayernauswahl, ich glaube, er hieß Bär, kam anschließend zu mir und meinte, wohl um mich zu trösten: »Du hast ja noch ein Jahr Zeit. Und außerdem bist du zu klein.« Dass ich noch ein Jahr Zeit haben würde, konnte ich als Jüngster der Sichtung ja noch nachvollziehen. Aber dass ich zu klein sei, die Körpergröße also mehr wert sein sollte als die sportliche Leistung, das war für mich ein Schock.
Ich bin nach Hause gegangen und habe meine ganze Enttäuschung an meiner Mutter ausgelassen. Unter Tränen bin ich auf sie los und schrie: »Weil du so klein bist, bin ich auch so klein!« Von irgendjemand musste ich ja meine Körpergröße geerbt haben. Meine Mutter maß 1,57 Meter. Ich war laut, ich war aggressiv, ich habe die ganze Wut an ihr ausgelassen. In diesem Moment konnte mich niemand besänftigen. Und mein Vater? Der hat sich da nicht groß eingemischt. Solche Konflikte musste ich mit mir selber ausmachen.
Die Erniedrigung bei dem Sichtungsturnier hat mich allerdings nur noch mehr angespornt. Noch stärker als bisher wollte ich den anderen beweisen, dass man auf mich nicht verzichten konnte, dass man mich brauchen würde, um Erfolg zu haben. Manchmal denke ich mir, dass ich nicht diesen Siegeswillen entwickelt hätte, wäre ich ein paar Zentimeter größer und robuster gewesen.
GYMNASIUM, NEIN DANKE!
Ich wollte Fußball spielen. Ich wollte so sehr Fußball spielen, dass ich mich sogar gegen das Abitur entschied. Zum Ende der Zeit auf der Carl-Platz-Grundschule empfahlen die Lehrer meinen Eltern, mich aufs Gymnasium versetzen zu lassen. Die Noten stimmten. Das Problem war nur, dass das nächste Gymnasium unseres Landkreises im 18 Kilometer entfernten Höchstadt an der Aisch gewesen ist. Um den Schulbus zu bekommen, hätte ich ziemlich früh aufstehen müssen und wäre ziemlich spät erst wieder zu Hause gewesen. Drei Stunden hätte ich so jeden Tag verloren. Drei Stunden, die ich bisher fürs Fußballspielen und Regenerieren eingeplant hatte. Hätte man rechtzeitig ein Gymnasium in Herzogenaurach gebaut, wäre ich sicher dorthin gegangen. So entschied ich mich bewusst dagegen. Und da meine Eltern nie so gestrickt waren, dass sie Sätze wie »Du musst unbedingt aufs Gymnasium!« oder »Du musst unbedingt studieren!« sagten, haben sie meinen Entschluss akzeptiert.
Nach der Grundschulzeit kamen viele neue Fächer dazu. Und die Zeit, viel zu lernen, hatte ich einfach nicht mehr. Oder besser: Ich nahm sie mir nicht. Zu dieser Zeit zogen wir in das neue Haus ein, was auch dazu führte, dass meine Mutter noch mehr arbeitete. Die Schulden mussten ja abbezahlt werden. Dadurch hat sie vielleicht weniger Zeit gehabt, mir bei den Hausaufgaben über die Schulter zu schauen. Ich konnte mich eher mal davonschummeln, um draußen zu kicken.
Die neuen Fächer wie Physik und Chemie machten mir überhaupt keinen Spaß, entsprechend gingen die Noten in den Keller. Auch die Bemerkungen der Lehrer auf den Zeugnissen veränderten sich. Mir wurde attestiert, dass ich zwar lebhaft, aber nicht aufmerksam sei, dass die Möglichkeiten zwar da seien, ich sie aber nicht ausnützen würde, weil ich andere Sachen im Kopf hätte. Das stimmte ja auch. Das war der Fußball und das waren die Entdeckungstouren eines Teenagers, der immer mit älteren Jungs zusammen war. Wir sind um die Häuser gezogen, haben in der Aurach Karpfen geangelt, machten Feuerstellen, haben uns geprügelt, tranken auf Partys früher Alkohol, als es erlaubt war, und sind in die Wälder gegangen, um eine zu rauchen. Ich habe vieles gemacht, was man in meinem Alter noch nicht machen durfte. Das zu verheimlichen, hat Zeit gekostet.
Außerdem wurden allmählich auch die Mädchen interessant. Die erste Liebe, der erste Kuss, das war Claudia. Ich war zwölf und ein großer Fan von ihr. Als Dorfschönheit mit blonden langen Haaren wollte jeder an ihrer Seite sein. Ich habe es geschafft. Ein bisschen Bussi, ein bisschen Händchenhalten. Mehr lief damals nicht. Wir begegneten uns natürlich in der Schule, trafen uns bei Jugendveranstaltungen am Nachmittag oder gingen zusammen ins Schwimmbad. Bei uns zu Hause war sie nie.
Fußball, Zigaretten, Mädchen. Plötzlich war ich nicht mehr der Primus. Nach der sechsten Klasse musste ich die nächste
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