Garnet Lacey 05 - Das bisschen Flitterwochen
»Hey, Garnet.«
Sebastians Sohn ist nicht nur ein halb vampirischer, nur äußerst langsam alternder Teenager, sondern kann auch in die Träume anderer eindringen. Seine Roma-Verwandten bezeichnen ihn in ihrer Sprache als etwas, das sich in etwa mit »Traumdieb« übersetzen lässt. Da die meisten Leute ihn unterbewusst als Bedrohung wahrnehmen, erscheint er wie der große schwarze Mann, vor dem im Traum alle davonlaufen.
Mátyás lehnte sich auf das Verandageländer. Aus der Nähe betrachtet, war er genauso Furcht einflößend. Wenn man überlegte, dass er in der Realität wie ein völlig durchschnittlicher Teenager aussah, dann war seine Traumpersönlichkeit umso erschreckender. Die Zähne waren wie ungleichmäßige Klingen, die Augen dunkle, leere Höhlen. Unter dem Hut flatterte sein Haar unablässig hin und her, als würde es von einem Wind zerzaust, den nur er wahrnehmen konnte.
»Wie nett von dir, dass du nach mir siehst«, zog ich ihn auf. In meiner Hand nahm ein Glas Limonade Gestalt an, das ich ihm anbot.
Als er das Glas annahm, veränderte sich der Inhalt in eine schwarze, dickliche Flüssigkeit. Er roch daran und wich zurück. »Ein Kindheitstrauma, das mit Gift zu tun hat, Doktor Freud?«, fragte er und stellte das Glas auf dem Nachttisch neben dem Krankenbett ab.
Ich lag in einem Sarg, den man gegen die Wand gelehnt hatte. »Oh, tut mir leid«, sagte ich, verließ den Sarg und wischte die Spinnweben ab, die sich an mir festgesetzt hatten. »Im Krankenhaus zu sein, macht mir wohl mehr Angst, als ich gedacht hätte.«
»Krankenhaus?«
»Ja, nach der Entführung.«
Mátyás setzte zu einer Erwiderung an, doch mit einem Zucken meiner Schultern zerbrach sein Bild in tausend Splitter, die wie zerbrochenes Glas zu Boden fielen, während ich aufwachte.
»Garnet?«
Sebastian war eingetroffen, er hatte einen riesigen Strauß roter Rosen mitgebracht. Ich blinzelte ein paar Mal, um den Schlaf zu vertreiben, dann nahm ich dankbar die Blumen und
einen Kuss in Empfang.
»Gerade habe ich Mátyás gesehen«, berichtete ich ihm, als ich zur Abwechslung mal nicht gähnte.
Sebastian nickte und schien nicht überrascht zu sein. Mátyás suchte besonders gern Freunde und Familie heim. »Ich hätte dir ja einen Kaffee mitgebracht, aber die Ärzte meinen, das wäre nicht gut für deinen Magen«, erklärte Sebastian und zog einen Metallstuhl mit beigefarbenem Vinylsitz heran. Dann griff er nach meiner Hand und strich mir mit dem Daumen sanft über die Knöchel. »Ich bin vor allem froh, dass es dir gut geht. Das mit dem Streit tut mir so leid.«
»Mir auch.«
Mir fiel auf, dass meine Zimmernachbarin nicht wiedergekommen war. Vermutlich hatte sie um ein Zimmer gebeten, das sie sich nicht mit jemandem teilen musste, der allem Anschein nach auf der Flucht vor dem Gesetz war.
Sebastian sah sich mit der Miene eines Mannes um, der es verabscheute, Zeit in einem Krankenhaus zu verbringen. Ich war ganz seiner Meinung. Und vielleicht würde man mich ja
entlassen, da er jetzt bei mir war.
»Ich kann es nicht fassen, dass du im Krankenhaus bist. Wie ist das passiert? Wo war Lilith, als es darauf ankam?«
Dann wollte er jetzt wieder Lilith in meinem Leben haben?
Ich sah seiner Miene die ernste Sorge um mich an, so als wäre ihm plötzlich bewusst geworden, dass ich in viel größerer Gefahr schweben könnte, wenn ich Lilith auf irgendeine
Weise verloren hätte. »Du weißt, Lilith ist nicht alles«, sagte ich, da ich nicht zugeben wollte, wie sehr mich die ganze Sache mit Larkin mitgenommen hatte. »Ich könnte auch auf mich selbst aufpassen.«
Von Sebastian kam ein Schön-wär’s-Schnauben. »Ich bin nur froh, dass du eine Göttin in Reichweite hast, wenn man bedenkt, welche Schwierigkeiten überall auf dich lauern. Oder vielleicht sollte ich zutreffender sagen: in welche Situationen du dich immer wieder bringst.« Er lächelte mich noch breiter an, und bevor ich widersprechen konnte, fügte er hinzu: »Weißt du, was Courtney mir erzählt hat? Sie sagt, du bist der Grund, weshalb Leute sich im Viertel Lake of the Isles verfahren. Es liegt nicht an den betrunkenen Iren, sondern an einem ganzen Schwarm Elfen, den du versehentlich in einem Park hast entkommen lassen.«
Ach, davon redete er. »Haben sie noch nicht alle wieder einfangen können?«
»So wie es aussieht, nicht«, erwiderte Sebastian mit amüsiertem Unterton in der Stimme.
Ich rieb mir den Kopf und versuchte zu überspielen, wie peinlich mir das immer
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