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Garou

Garou

Titel: Garou Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Swann
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machte keinen Sinn. Warum so ein großes Ding, wenn man dann darin so wenig Platz hatte zwischen all den Winkeln und Wänden und Dingen?
    Früher hatten die Schafe die Schlossinsassen manchmal ein wenig beneidet, um das gute Gefühl von Himmel-über-sich, das sich trotz des Daches in einem so hohen Gebäude einstellen musste. Jetzt wunderte sich Othello, warum die Schlossbewohner sie nicht vertrieben und selbst in den Heuschuppen zogen, wo man durch ein Fenster den Himmel sehen konnte und Schneeflocken atmen. Nicht, dass er sich so einfach treiben lassen würde. Und schon gar nicht hierher. Hier atmete man nur Staub und alte Luft, zu viel Wärme und ein bisschen Asche. Kein Wasser. Kein Gras. Warum an einem Ort bleiben, wo man kein Gras riechen konnte? Wände. Winkel. Öffnungen. Othello überlegte, was für Wesen die Menschen sein mussten, wenn sie sich hier wohl fühlten. Keine Weidetiere jedenfalls. Winkeltiere. Wesen der Löcher, Spalten und Ritzen. Mopple dachte weniger. Er versuchte, das Beste aus der Schlossgeschichte zu machen, und probierte alles, was halbwegs essbar aussah. Wer fraß, hatte keine Angst. Jedenfalls nicht so viel.
    Sie waren Rebecca und dem Häher tief in den Bauch des Schlosses gefolgt, über rutschige Fliesen, hallende Steinböden und tiefe, samtige Teppiche, und die Dinge wurden immer seltsamer. Sommerwärme und Blumen und Früchte im Winter, kleine gefangene Feuer, die böse zischten, und jetzt eine Wand voller Menschengesichter. Die Gesichter hatten die Augen geschlossen und waren nicht echt.
    »Kunst?«, fragte Rebecca zögerlich.
    »Eher das Gegenteil«, sagte der Häher. »Natur. Freiheit. Das Ende der Zivilisation.«
    »Also doch Kunst!«, sagte Rebecca.
    »Keine von Menschen gemachte jedenfalls. Nicht wirklich. Das sind alles Totenmasken.«
    Rebecca am anderen Ende des Raums trat nervös einen Schritt zurück.
    »Totenmasken?«
    »Wir sagen >Masken<, aber eigentlich sehen wir hier den Moment, wo alle Masken abgelegt wurden. Sehen Sie, wie schön die Gesichter sind, wenn erst die vielen Gedanken aus ihnen verschwunden sind? Als ob das Menschsein eine Krankheit war, und jetzt sind sie wieder gesund und ganz. Vollkommene Entspannung. Wenn ich mir überlege, wie ich ein Gesicht modellieren soll, komme ich oft hierher.«
    »Sie sind schön«, sagte Rebecca leise. »Machen Sie das oft? Ganze Gesichter, meine ich?«
    »Dann und wann«, sagte der Häher. »Es ist immer etwas sehr Besonderes. Ein neues Gesicht ist ein neues Leben. Hier entlang!«
    Rebecca und der Häher gingen langsam weiter, aber Mopple und Othello blieben noch einen Moment lang vor der Wand mit den Gesichtern stehen.
    »Er macht Gesichter«, sagte Othello. Es war fast mehr, als sich ein Schaf vorstellen konnte. »Ob er auch Mamas zweites Gesicht gemacht hat?«
    Mopple hatte eine Bodenvase mit Blumen entdeckt und kaute ratlos.
     
    Es war dunkel. Zu dunkel. Auf einmal war sich Maple sicher, dass sie nicht mehr im Heuschuppen war. Wind wehte. Es roch nach Tannen und mehr Schnee.
    Maple blökte leise und unbehaglich.
    Dunkel.
    Schweigen.
    Sie war allein.
    Und dann konnte Maple auf einmal doch etwas sehen. Etwas sehr Helles kam aus dem Wald, durch den Weidezaun, als wäre sie gar nicht da, direkt auf Maple zu. Ein Leuchten. Ein Schaf. Es sah aus wie der ungeschorene Fremde, nur ohne Moos. Strahlend weiß und mondlichtbleich.
    Maple wusste, dass es das Mondschaf war.
    Sie hörte auf zu kauen - bisher hatte sie gekaut - und richtete sich auf. Dem Mondschaf begegnete man nicht alle Tage.
    »Hallo!«, sagte das Mondschaf. Es war sehr groß.
    Maple war erleichtert, dass das Mondschaf mit ihr sprach. Der fremde Widder hatte nicht mit ihr gesprochen, als sie ihn heute nach dem Garou gefragt hatte.
    Seit das leuchtende Mondschaf neben ihr stand, konnte Maple wieder etwas sehen. Sie stand mitten auf der Weide, zwischen Schloss und Wald. Im Schloss brannten alle Lichter, und aus jedem Fenster blickte ein Mensch auf sie herab. Augen auf ihrem Fell, zu viele Augen. Maple sah schnell weg. Wo sonst der Schäferwagen stand, lag ein großer Stein auf der Weide, und der Heuschuppen war ganz verschwunden. Dafür war Yves wieder aus dem Schnee aufgetaucht und lag breit und unübersehbar unter der alten Eiche.
    »Ein Opfer«, sagte das Mondschaf »Für Erkenntnis. Man sollte ihn nicht übersehen!«
    Der Schrank neben der alten Eiche erwachte und klappte seine Türen auf und zu wie ein Insekt seine Kiefer.
    Überall auf der Weide verstreut lagen

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