Garou
nichts mehr.
Rebecca zog Tess unter dem Schäferwagen hervor, legte sie in ihren Schoß und streichelte ihr das Fell, schwarz und weiß, schwarz und blau im Mondlicht. Sie streichelte Tess eine lange Zeit.
Dann stand sie auf und ging mit der Schäferhündin im Arm die Stufen hinauf.
»Ich brauch die Nummer!«, sagte sie. »Wo ist die Nummer!« Es klang wie ein Schrei.
»Die Nummer gegen Kummer?«, fragte Mama.
»Nein«, sagte Rebecca mit erstickter Stimme. »Leider nicht! Die Nummer von diesem Inspektor! Ich ruf ihn an! Ich ruf ihn sofort an! Sie war kerngesund heute Morgen. Kerngesund! Jemand hat sie vergiftet! Ich weiß einfach, dass sie jemand vergiftet hat!«
Die Tür des Schäferwagens schlug zu.
Die Schafe standen im Eingang des Heuschuppens. Sie hatten noch nicht wirklich angefangen, Tess zu vermissen. Nachts gab es keine Tess. Tess gab es nur am Tage, mit Klappohren und heller Hundestimme und sehr viel Freude im Körper, vor allem in ihrer Schwanzspitze. Das Wunderbarste an Tess war, dass George immer ein bisschen bei ihr war. Wenn Tess sie hütete, konnten die Schafe ihn sehen, eine schemenhafte Gestalt am Rande der Weide, mit Schäferhut und Stock und einem Lächeln, das sie spüren konnten.
Morgen früh würden sie Tess ganz schrecklich vermissen.
»Ob sie wirklich vergiftet wurde?«, fragte Cordelia.
»Und von wem?«, fragte Lane.
»Dem Garou!«, blökte Ramses schrill.
»Unsinn«, sagte Cloud. »Wölfe beißen. Sie vergiften nicht.«
»Vielleicht doch!«, sagte Maple plötzlich. »Vielleicht hat der Garou Angst vor Hunden! Vielleicht hat er Tess vergiftet, damit niemand mehr auf uns aufpasst!«
Es war ein beunruhigender Gedanke. Nicht alle Schafe trauten sich, ihn zu Ende zu denken, aber manche dann doch.
»Wir wissen, wer Angst vor Hunden hat!«, sagte Lane langsam.
»Der Häher! Der Häher!«, blökten Cordelia und Cloud im Chor.
»Ja«, sagte Maple. »Aber der Häher hat keine Angst vor Silber.«
Maple dachte an das Silber in den behandschuhten Händen des Hähers, und dann musste sie auf einmal an Rebeccas streichelnde Hände denken.
Hände.
Hände waren das Problem.
Die Menschen glaubten, dass sie mehr dachten als andere Wesen. Das war ein Irrtum. Auch Schafe dachten ohne Unterlass, tiefe, wollige Schafsgedanken. Aber Menschen hatten Hände, um nach ihren Gedanken zu greifen, sie festzuhalten, zu formen, sie aus der wolkigen Gedankenwelt hinüberzuzerren auf die Weide des Lebens, sie aufzuschreiben und weiterzureichen, von Kopf zu Kopf und Hand zu Hand. Der Garou war ein Gedanke, den jemand geformt hatte. Aber warum? Und wozu?
»Was ist, wenn es gar keinen Garou gibt?«
Viele Schafsaugen hefteten sich auf Maple, die wieder in ihrem Lichtfleck stand und selbst ein bisschen wie das Mondschaf aussah.
»Keinen Garou?«
Maple trat auf ihre Herde zu, aus dem Licht in den Schatten.
»Erinnert ihr euch an das, was Othello von dem Spaziergänger erzählt hat? Von dem Reh, das er bluten lassen wollte? Und an so einem dummen Ort, wo es bestimmt jemand findet! Vielleicht wollte er, dass es gefunden wird. Vielleicht wollte er, dass die Leute glauben, es gäbe einen Garou! Ich habe zuerst gedacht, dass der Garou ein Mensch ist, der Wolf spielt. Aber jetzt glaube ich, dass ein Mensch Garou spielt.«
»Warum sollte jemand Garou spielen wollen?«, fragte Lane. »Das ist ein doofes Spiel!«
»Vielleicht macht es Spaß«, sagte Heathcliff.
»Spaß!« Die anderen sahen Heathcliff böse an.
Heathcliff guckte ein bisschen verlegen. »Leitwidder spielen macht Spaß. Ziege spielen macht Spaß .Vielleicht macht Garou spielen ja auch Spaß.«
Er dachte einen Moment lang nach.
»Wenn man der Wolf ist, muss man vor dem Wolf keine Angst mehr haben, oder?«, sagte er leise.
Maple begann, konzentriert auf und ab zu traben, so wie es wahrscheinlich nur das klügste Schaf Europas und vielleicht der Welt konnte.
»Die Männer wollen, dass es so aussieht, als gäbe es einen Garou. Warum? Weil man den Garou nicht fangen kann - und die Polizei schon gar nicht! Sie erfinden eine Geschichte, und dann lassen sie es so aussehen, als wäre sie wirklich. Die Männer wollen dem Garou etwas unterschieben! Aber was - oder wen?«
»Yves?«, fragte Cloud.
»Vielleicht«, sagte Miss Maple.
Mopple wusste nicht mehr, wie er in den Wald hineingeraten war. Auf einmal war er wieder draußen vor dem Schloss gestanden, und ein Steintier hatte ihn erschreckt, flackernd und lebendig im Mondlicht. Und jetzt?
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