Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
Schießübungsplatz würden wir in unseren Vororten auch nicht dulden!
Sollen sie ruhig aus Flugzeugen springen, wenn sie wollen – aber über dem Meer! Nicht da, wo meine Kinder leben.
    »Was wäre diese Gegend bloß
ohne Sie?«, sagte die alte Frau, deren Namen ich mir nie merken kann. Ohne
mich, dachte ich, wäre diese Nachbarschaft wahrscheinlich friedlich. Vielleicht tödlicher, aber friedlich. »Sie fahren alle so schnell«,
sagte die alte Dame. »Manchmal denke ich, wenn Sie nicht wären, würden sie oft
direkt in mein Wohnzimmer krachen.« Allerdings machte es mich verlegen, dass
ich solche Ängste mit den Achtzigjährigen teilte, dass meine Befürchtungen mehr
ihren nervösen, senilen Sorgen glichen als den normalen Ängsten von Leuten in
meinen jüngeren Jahren.
    Was lebe ich für ein
unglaublich langweiliges Leben!, dachte ich, während ich die alte Frau über die
Fugen im Bürgersteig hinweg zu ihrer Haustür führte.
    Dann kam der Klempner
zurück. Ich dachte, die alte Dame würde in meinen Armen den Geist aufgeben. Der
Klempner fuhr auf den Bordstein und raste an uns vorbei, über den Rasen der
alten Frau hinweg, walzte einen schmächtigen jungen Baum platt und kippte beim [458]  Wenden
fast um: der Lieferwagen wirbelte so scharf herum, dass er eine ansehnliche
Hecke entwurzelte und Grassoden von der Größe fünfpfündiger Steaks durch die
Luft jagte. Dann raste er zum Bürgersteig zurück, und es folgte eine Explosion
von Werkzeugen, die in alle Richtungen flogen, als die Hinterräder den
Bordstein hinunterrumpelten. O. Fecteau war wieder auf der Straße und
terrorisierte erneut unsere Nachbarschaft. Ich sah, wie der gewalttätige Klempner
an der Ecke Dodge Street–Furlong Street abermals auf den Bordstein sauste und
dabei die Rückseite eines parkenden Autos streifte, wodurch der Deckel des
Kofferraums aufsprang und auf und ab wippte.
    Ich geleitete die alte Dame
ins Haus und rief die Polizei an – und meine Frau, um ihr zu sagen, sie solle
die Kinder nicht nach draußen lassen. Der Klempner sei definitiv ausgerastet.
So helfe ich meinen Nachbarn, dachte ich: indem ich Verrückte noch verrückter
mache.
    Die alte Frau saß
gertenschlank und hochaufgerichtet wie eine Pflanze in einem Sessel mit
Paisleymuster in ihrem vollgestellten Wohnzimmer. Als O. Fecteau zum zweiten
Mal zurückkam – und mit quäkender Hupe wenige Zentimeter am Blumenfenster des
Wohnzimmers vorbei und durch die Kiesbeete für die Baumsetzlinge fuhr –, blieb
die alte Frau ungerührt sitzen. Ich stand an der Tür und wartete auf den
letzten Angriff, hielt es aber für klüger, mich nicht zu zeigen. Ich wusste,
wenn O. Fecteau mich sah, würde er versuchen, ins Haus zu fahren.
    Als die Polizei eintraf,
hatte der Klempner seinen [459]  Lieferwagen bei dem Versuch, an der Kreuzung Cold
Hill Street–North Lane einem Kombi auszuweichen, umgekippt. Er selbst hatte
sich das Schlüsselbein gebrochen und saß aufrecht in der Fahrerkabine, obwohl
der Lieferwagen auf der Seite lag; offensichtlich war er außerstande, aus der
Beifahrertür über seinem Kopf zu klettern, oder er hatte es gar nicht erst
versucht. O. Fecteau machte einen gelassenen Eindruck; er hörte Radio.
    Seither bin ich dazu
übergegangen, Verkehrssünder weniger hart ranzunehmen; sobald ich merke, dass
sie mir übelnehmen, dass ich sie anhalte und ihre schlechten Gewohnheiten
kritisiere, sage ich nur: »Ich hole die Polizei«, und mache mich aus dem Staub.
    Dass O. Fecteau offenbar
schon öfter sozial auffällig und gewalttätig geworden war, machte mich selbst
nicht frei von Schuld. »Wie gut, dass du diesen Klempner von der Straße
gebracht hast«, sagte meine Frau, die sonst meine Sucht, anderen
vorzuschreiben, wie sie sich verhalten sollen, immer kritisiert. Aber ich
konnte immer nur denken, dass ich einen Handwerksmeister zur Weißglut gebracht
hatte; und wenn O. Fecteau bei seinem Anfall ein Kind
umgebracht hätte, wessen Schuld wäre es gewesen? Zum Teil meine, denke ich.
    Meiner Meinung nach ist
heutzutage entweder alles eine moralische Frage, oder es gibt keine moralischen
Fragen mehr. Heutzutage gibt es keine Kompromisse, oder es gibt nur noch
Kompromisse. Unbeirrt und unbeirrbar halte ich meine Wache. Es gibt kein Aufhören.
    [460]  Sag jetzt bloß nichts,
sagte sich Helen. Geh hin, und küss ihn, und dräng dich an ihn; lock ihn, so
schnell du kannst, ins Schlafzimmer, und red erst später über die blöde
Geschichte. Viel später, sagte sie sich. Aber

Weitere Kostenlose Bücher