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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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obersten
Plätze ein. Bei Bildern von nackten Frauen richteten sich die Ausdrücke danach,
wie viel man sehen konnte. Wenn man die Schamhaare sehen konnte, aber nicht die [466]  Geschlechtsteile, nannte man es ein Buschbild – oder nur einen Busch. Wenn
man die Genitalien sehen konnte, die manchmal teilweise von den Haaren verdeckt
wurden, war das ein Visier; ein Visier war besser als nur ein Busch; ein Visier
war erst richtig etwas: die Haare und die Teile. Wenn die Teile geöffnet waren, nannte man es ein offenes Visier. Und wenn das Ganze glänzte, war es das Allerbeste, jedenfalls in der Welt der Pornographie: das war dann
ein feuchtes, offenes Visier. Die Feuchtigkeit bedeutete, dass die Frau nicht
nur nackt und dargeboten und geöffnet war, sondern dass sie auch bereit war.
    In seinem Traum betrachtete Garp
das, was die Ringer ein feuchtes, offenes Visier nannten, als er plötzlich
Kinder weinen hörte. Er wusste nicht, wessen Kinder es waren, aber Helen und
Jenny Fields, seine Mutter, waren bei ihnen; sie kamen alle die Treppe herunter
und gingen an ihm vorbei, während er krampfhaft vor ihnen zu verstecken
versuchte, was er betrachtet hatte. Sie waren oben gewesen, und irgendetwas
Furchtbares hatte sie geweckt; sie waren auf dem Weg weiter nach unten – in den
Keller, als sei der Keller ein Luftschutzbunker. Und bei diesem Gedanken hörte
Garp das dumpfeKrachen von Bomben – er bemerkte den
bröckelnden Putz, er sah die flackernden Lichter –, und er begriff den
Schrecken dessen, was auf sie zukam. Die Kinder gingen jeweils zu zweit
wimmernd hinter Helen und Jenny her, die sie so unaufgeregt wie
Krankenschwestern zum Luftschutzbunker führten. Wenn sie Garp überhaupt
beachteten, dann sahen sie ihn mit unbestimmter Trauer und Verachtung an, als
hätte er sie alle im Stich gelassen und sei machtlos, ihnen jetzt zu helfen.
    [467]  Vielleicht hatte er das
feuchte, offene Visier betrachtet, statt auf feindliche Flugzeuge zu achten?
Doch eben, da es ein Traum war, ließ es sich nie klären, warum er sich eigentlich so schuldig fühlte und warum sie ihn jetzt
betrachteten, als hätte er sie misshandelt.
    Am Ende der Schlange von Kindern
gingen Walt und Duncan, Hand in Hand; das sogenannte Paarsystem, wie es in
Sommerlagern angewandt wird, schien in Garps Traum die natürliche Reaktion auf
ein Unglück unter Kindern zu sein. Der kleine Walt weinte, wie Garp ihn nur
hatte weinen hören, wenn er von einem Alptraum geplagt wurde und nicht
aufwachen konnte.
    »Ich habe einen bösen Traum«,
schniefte er.
    Er sah seinen Vater an und schrie
ihm fast zu: »Ich habe einen bösen Traum.«
    Aber in Garps Traum konnte Garp den
Jungen aus diesem Traum nicht wecken. Duncan blickte
seinen Vater stoisch über die Schulter hinweg an, mit einem stummen und
tapferen schicksalsergebenen Ausdruck in seinem jungen Gesicht. Duncan wirkte
neuerdings sehr erwachsen. Duncans Blick war ein Geheimnis zwischen Duncan und
Garp: sie wussten beide, dass es kein Traum war und
dass Walt nicht geholfen werden konnte.
    »Weck mich auf!«, rief Walt, aber
die lange Reihe von Kindern verschwand in dem Luftschutzbunker. Walt versuchte,
sich Duncans Griff zu entziehen (Walt reichte Duncan ungefähr bis zum
Ellbogen), und blickte zurück zu seinem Vater. »Ich träume !«,schrie Walt, wie um sich selbst zu überzeugen. Garp konnte
nichts tun; er sagte nichts; er machte keinen Versuch, ihnen zu folgen – jene
letzten [468]  Stufen hinunter. Und der abfallende Putz überzog alles mit einer
weißen Schicht. Noch immer fielen Bomben.
    »Du träumst!«, schrie Garp hinter
dem kleinen Walt her. »Es ist nur ein böser Traum!«, rief er, obwohl er wusste,
dass er log.
    Dann gab Helen ihm einen Tritt,
und er wachte auf.
    Vielleicht fürchtete Helen, Garps
amoklaufende Phantasie würde sich von Walt abwenden und ihr zuwenden. Denn wenn
Garp ihr nur die Hälfte der Sorge gewidmet hätte, die er aus irgendeinem Zwang
heraus Walt zuwandte, hätte Garp vielleicht gemerkt, dass irgendetwas
passierte.
    Helen meinte, das, was passierte,
unter Kontrolle zu haben; sie hatte zumindest in der Hand gehabt, wie es anfing
(als sie dem krumm dastehenden Michael Milton wie gewöhnlich die Tür ihres
Arbeitszimmers geöffnet und ihn hineingebeten hatte). Drinnen schloss sie die
Tür hinter ihm und küsste ihn schnell auf den Mund, wobei sie seinen schmalen
Hals so festhielt, dass er ihn nicht einmal bewegen konnte, um Atem zu holen,
und ihr Knie zwischen seine Beine

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