Garp und wie er die Welt sah
Stellung an der großen,
berühmten Steering School an. Dort würde sie allerdings nur eine von vielen
Schulschwestern sein, und die Wohnung, die sie und Garp bekommen sollten, lag
in dem kalten, mit vergitterten Fenstern versehenen Seitenflügel des
Nebengebäudes, in dem die Krankenstation untergebracht war.
[52] »Mach dir nichts draus«, sagte
ihr Vater. Es passte ihm nicht, dass Jenny überhaupt arbeiten wollte. Geld war
genug da, und er wäre glücklicher gewesen, wenn sie sich auf dem Familiensitz
in Dog’s Head Harbor versteckt hätte, bis ihr kleiner Bastard herangewachsen
war und eigene Wege ging. »Wenn der Junge ein Fünkchen angeborener Intelligenz
hat«, sagte er zu ihr, »sollte er später eventuell
die Steering School besuchen, aber bis dahin gibt es
meiner Meinung nach keine bessere Umgebung, in der ein Junge aufwachsen
könnte.«
»Angeborene Intelligenz« – das
war eine der vornehmen Formulierungen, mit denen ihr Vater auf Garps
zweifelhafte genetische Herkunft anspielte. Die Steering School, die Jennys
Vater und ihre Brüder besucht hatten, war damals eine reine Jungenschule. Jenny
glaubte, das Beste für ihren Sohn zu tun, indem sie die Gefangenschaft dort
aushielt, bis der kleine Garp das Gymnasium hinter sich gebracht hätte. »Ein
Akt der Wiedergutmachung, weil du ihm einen Vater verweigerst«, wie ihr Vater
sich ihr gegenüber ausdrückte.
»Es ist doch sonderbar«, schrieb
Garp, »dass meine Mutter, die sich selbst gut genug kannte, um zu wissen, dass
sie unter keinen Umständen mit einem Mann zusammenleben wollte, am Ende mit
achthundert Jungen zusammenlebte.«
So wuchs der kleine Garp bei seiner
Mutter im Nebengebäude der Krankenstation der Steering School auf. Er wurde
nicht ganz wie ein »Lehrerbalg« – so nannten die Schüler alle minderjährigen
Kinder der Lehrer und Mitarbeiter der Schule – behandelt. Eine Schulschwester
gehörte [53] irgendwie nicht zur gleichen Schicht oder Kategorie wie die
Lehrerschaft. Überdies machte Jenny keinen Versuch, einen Mythos um Garps Vater
aufzubauen – um für sich selbst eine Heiratsgeschichte zurechtzulegen und ihren
Sohn als ehelich auszugeben. Sie war eine Fields, und sie legte Wert darauf,
den Leuten ihren Namen zu sagen. Ihr Sohn war ein Garp. Und sie legte Wert
darauf, den Leuten seinen Namen zu sagen. »Es ist
sein eigener Name«, sagte sie.
Alle bekamen es mit. In der
Steering School wurden gewisse Formen der Arroganz nicht nur toleriert, sondern
sogar gefördert; dabei war akzeptable Arroganz eine Frage des Geschmacks und
des Stils. Der Grund, weshalb man arrogant war,
musste als lohnend – einem höheren Zweck dienend – empfunden werden, und die
Art, wie man arrogant war, sollte charmant sein.
Jenny Fields war nicht von Natur aus geistreich. Garp schrieb, dass seine
Mutter »nie beschloss, arrogant zu sein, sondern nur unter Druck arrogant
wurde«. Stolz war an der Steering School hoch angesehen, aber Jenny Fields
schien auf ein uneheliches Kind stolz zu sein. Kein Grund, den Kopf hängen zu
lassen, aber ein bisschen Demut hätte sie doch zeigen
können.
Jenny war indessen nicht nur
stolz auf Garp, sondern sie freute sich ganz besonders über die Umstände, wie
sie ihn bekommen hatte. Die Welt kannte diese Umstände noch nicht – Jenny hatte
ihre Autobiographie noch nicht veröffentlicht, sie hatte noch nicht einmal
angefangen, sie zu schreiben. Sie wartete, bis Garp alt genug war, um die
Geschichte würdigen zu können.
Garp kannte die Geschichte nur
so, wie Jenny sie [54] jedem erzählte, der den Mut hatte, sie zu fragen. Jennys
Geschichte war drei nüchterne Sätze lang.
1. Garps Vater war Soldat.
2. Er fiel im Krieg.
3. Wer nahm sich im Krieg
schon die Zeit zum Heiraten?
Präzis und geheimnisvoll, wie
sie war, entbehrte die Geschichte nicht einer gewissen Romantik. Aufgrund der
drei Sätze hätte der Vater immerhin ein Kriegsheld gewesen sein können. Eine
tragische Liebesaffäre war vorstellbar. Schwester Fields hätte eine Lazarettschwester
gewesen sein können. Sie hätte sich »an der Front« verlieben können. Und Garps
Vater hätte meinen können, er schulde »der Menschheit« einen letzten Einsatz.
Aber bei Jenny Fields malte sich niemand ein solches Melodram aus. Zunächst
einmal schien sie ihr Alleinsein viel zu sehr zu genießen; sie trauerte der
Vergangenheit offenbar nicht im mindesten nach. Sie war nie zerstreut, sie
bemühte sich einfach, für den kleinen Garp da zu sein – und eine
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