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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Oberschwester ernannt wurde –, stellte man an der Steering
School fest, dass er etwas Merkwürdiges an sich hatte. Was an einem
fünfjährigen Jungen merkwürdig sein sollte, ist nicht ganz klar, aber sein Kopf
wirkte irgendwie glatt, dunkel, feucht (wie der Kopf einer Robbe), und sein
sehr kompakter Körper erweckten die alten Spekulationen über seine Gene wieder
zum Leben. Seinem Temperament nach schien der Junge seiner Mutter zu ähneln:
entschlossen, möglicherweise etwas naiv, reserviert, aber immer aufmerksam. Er
war klein für sein Alter, aber in anderer Hinsicht ungewöhnlich reif; er besaß
eine beunruhigende Gelassenheit. In Bodennähe wirkte er behende, wie ein
geschmeidiges Tier. Andere Mütter nahmen beunruhigt zur Kenntnis, dass der
Junge auf alles klettern konnte. Ob Klettergerüste,
Schaukeln, Böschungen, Zuschauertribünen oder die gefährlichsten Bäume: Garp
war immer ganz oben.
    Eines Abends nach dem Essen
konnte Jenny ihn nicht finden. Garp durfte sich auf der Krankenstation und im
Nebengebäude frei bewegen und mit den Jungen reden. Jenny rief ihn
normalerweise über die Sprechanlage, wenn er in die Wohnung zurückkommen
sollte, » GARP NACH HAUSE «, pflegte sie zu sagen.
Er hatte seine genauen Anweisungen: welche Zimmer er nicht betreten durfte,
weil dort die ansteckenden Fälle lagen oder Jungen, denen es wirklich
schlechtging und die lieber allein sein wollten. Am besten gefielen Garp die
Sportunfälle; er sah sich gern [61]  Gipsverbände und Schlingen und voluminöse
Bandagen an, und er ließ sich gern den Hergang der Unfälle erzählen, immer
wieder von vorn. Vielleicht war er im Herzen Krankenschwester, wie seine
Mutter. Jedenfalls freute er sich, wenn er für die Patienten etwas erledigen
oder ausrichten oder Essen stibitzen konnte. Aber eines Abends – er war fünf –
reagierte Garp nicht auf den GARP NACH HAUSE -Ruf.
Über die Sprechanlage erreichte man alle Zimmer der Krankenstation und des
Nebengebäudes, auch die Räume, die Garp unter keinen Umständen betreten durfte – Labor, OP und Röntgenraum. Wenn Garp die GARP NACH HAUSE -Botschaft nicht hören konnte, wusste
Jenny, dass er entweder nicht in den Gebäuden oder in der Klemme war. Sie
stellte in aller Eile einen Suchtrupp aus den gesünderen und beweglicheren
Patienten zusammen. Es war ein nebliger Abend im Vorfrühling; ein paar Jungen
gingen nach draußen und riefen durch die feuchten Forsythien und über den
Parkplatz. Andere durchstöberten alle dunklen, leeren Winkel und die verbotenen
Räume mit den medizinischen Apparaten. Anfangs gab Jenny ihren ersten Ängsten
nach. Sie untersuchte den Wäscheschacht, einen glatten Zylinder, der durch vier
Etagen direkt in den Keller hinunterführte (Garp durfte nicht einmal Wäsche in
den Schacht werfen). Aber unten, wo der Schacht durch die Decke kam und seinen
Inhalt auf den Kellerboden spie, lag nur Wäsche auf dem kalten Zement. Sie
suchte im Boilerraum und in dem siedenden riesigen Heißwasserkessel, aber Garp
war dort nicht gekocht worden. Sie suchte in den Treppenhäusern, aber Garp hatte
Anweisung, nicht auf der Treppe zu spielen, und er lag nicht zerschmettert in
der Tiefe eines der [62]  viergeschossigen Aufgänge. Dann kamen die
unausgesprochenen Ängste, der kleine Garp könne einem unerkannten Sittenstrolch
unter den Jungen der Steering School zum Opfer fallen. Aber im Vorfrühling
waren zu viele Jungen auf der Krankenstation, als dass Jenny sie alle hätte im
Auge behalten oder gar gut genug kennen können, um ihre sexuellen Neigungen zu
erahnen. Da waren die Dummköpfe, die am ersten Sonnentag schwimmen gingen, noch
ehe die Schneereste ganz geschmolzen waren. Da waren die letzten Opfer
hartnäckiger Wintererkältungen, deren Widerstandskräfte zermürbt waren. Da
waren die sich häufenden Sportverletzungen des Winterhalbjahrs und die ersten
Schüler, die sich beim Frühjahrssport verletzt hatten.
    Einer von ihnen war Hathaway, der
jetzt von seinem Zimmer im vierten Stock des Nebengebäudes nach Jenny
klingelte. Hathaway, ein Lacrossespieler, hatte sich einen Bänderriss am Knie
zugezogen; zwei Tage nachdem man ihm einen Gipsverband gemacht und ihn auf
Krücken laufen gelassen hatte, war er im Regen nach draußen gegangen und oben
auf der langen Marmortreppe der Hyle Hall ausgerutscht. Bei dem Sturz hatte er
sich das andere Bein gebrochen. Jetzt lümmelte Hathaway mit seinen beiden
langen Gipsbeinen in seinem Bett im vierten Stock des Nebengebäudes

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