Garp und wie er die Welt sah
gute
Krankenschwester zu sein.
Natürlich war der Name Fields an
der Steering School bekannt. Der berühmte Schuhkönig aus Neuengland war ein
großzügiger Ehemaliger, und eines Tages sollte er, ob man es nun damals
vermutete oder nicht, sogar Mitglied des Beirats werden. Sein Geld war nicht
das älteste, aber auch nicht das neueste in Neuengland, und seine Frau, Jennys
Mutter – eine geborene Weeks aus Boston, war an der Steering School womöglich
noch bekannter. Einige der älteren Lehrer konnten sich noch erinnern, dass
jahrelang, [55] ohne Unterbrechung, immer irgendein Weeks gerade seine
Abschlussprüfung gemacht hatte. Trotzdem hatte man an der Steering School nicht
den Eindruck, dass Jenny Fields all die guten Eigenschaften geerbt hatte. Sie
sah zugegebenermaßen ganz gut aus, aber sie war nichts Besonderes. Sie trug
ihre Schwesterntracht sogar, wenn sie etwas Schickeres hätte anziehen können.
Und überhaupt, die Sache mit dem Schwesternberuf, auf den sie auch noch stolz
zu sein schien, war irgendwie merkwürdig. Wenn man an ihre Familie dachte…
Krankenpflege war kein Beruf für eine Fields oder eine Weeks.
In Gesellschaft legte Jenny jene
unelegante Ernsthaftigkeit an den Tag, bei der leichtlebigeren Leuten unwohl
zumute wird. Sie las viel und rannte ständig in die Schulbibliothek. Wenn
jemand ein Buch haben wollte, das gerade nicht da war, stellte sich jedes Mal
heraus, dass es an Schwester Fields ausgeliehen war. Diesbezügliche Anrufe
wurden höflich beantwortet: Oft bot Jenny an, das Buch dem Interessenten
vorbeizubringen, sobald sie es ausgelesen hätte. Sie las die Bücher dann
schnell zu Ende, aber sie hatte nichts über sie zu sagen. In einer
Schulgemeinschaft ist jemand, der aus irgendwelchen verborgenen Gründen liest,
jedenfalls nicht, um darüber zu sprechen, ein Sonderling. Wozu las sie
eigentlich?
Dass sie in ihren Freistunden
Kurse besuchte, war noch sonderbarer. In der Satzung der Steering School stand,
dass Lehrer und Mitarbeiter sowie ihre Ehegatten kostenlos jeden angebotenen
Kurs besuchen durften – sie brauchten nur die Erlaubnis des Unterrichtenden
einzuholen. Und wer hätte eine Krankenschwester abhalten wollen – von den [56] Elisabethanern,
dem viktorianischen Roman, der Geschichte Russlands bis 1917, von einer
Einführung in die Genetik oder von der Abendländischen Zivilisation I und II ? Im Laufe der
Jahre sollte Jenny Fields von Cäsar bis zu Eisenhower marschieren, vorbei an
Luther und Lenin, Erasmus und der Zellteilung, der Osmose und Freud, an
Rembrandt und den Chromosomen und Vincent van Gogh – vom Styx zur Themse, von
Homer bis zu Virginia Woolf. Von Athen nach Auschwitz. Sie sagte nie ein Wort.
Sie war die einzige Frau in den Kursen. In ihrer weißen Uniform hörte sie so
ruhig zu, dass die Jungen und schließlich auch die Lehrer sie vergaßen; sie
setzten den Unterricht fort, während Jenny schneeweiß und still unter ihnen
saß, eine Zeugin, der nichts entging – die zwar nichts zu melden hatte, sich
aber dennoch über alles ein Urteil bildete.
Jenny Fields erhielt die Bildung,
auf die sie gewartet hatte; jetzt schien die Zeit reif zu sein. Aber ihre
Motive waren nicht nur egoistisch; sie prüfte die Steering School für ihren
Sohn. Wenn Garp alt genug war, würde sie ihm eine Menge Ratschläge geben können – sie kannte die Nieten in jedem Fach, die Kurse, die sich dahinschleppten, und
diejenigen, die im Fluge vergingen.
Ihre winzige Wohnung im
Seitenflügel des Nebengebäudes der Krankenstation quoll über von Büchern. Sie
verbrachte zehn Jahre an der Steering School, bevor sie herausfand, dass die
Buchhandlung den Lehrern und Mitarbeitern der Schule einen Nachlass von zehn
Prozent gewährte (den man ihr nie angeboten hatte). Das erzürnte sie. Sie war
auch sehr großzügig mit ihren Büchern – am Ende standen Regale in jedem Zimmer
des trostlosen Seitenflügels. Aber [57] sie sprengten die Regale und glitten
hinüber ins Hauptgebäude der Krankenstation, ins Wartezimmer und in den
Röntgenraum, wo sie die Zeitungen und Zeitschriften zunächst bedeckten und dann
ersetzten. Allmählich wurde den Kranken der Steering School klar, was für ein
ernsthafter Ort das war – nicht wie irgendein gewöhnliches Krankenhaus, das
vollgestopft war mit leichter Lektüre und allerlei billigen Heftchen. Während
man auf den Arzt wartete, konnte man im Herbst des
Mittelalters blättern; während man auf seine Laborergebnisse wartete,
konnte man die Schwester
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