Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
bitten, einem das große Standardwerk der Genetik, Das Handbuch der Taufliege, zu bringen. Wenn man ernsthaft
krank war oder vielleicht längere Zeit in der Station liegen musste, fand sich
dort sicher Der Zauberberg. Für den Jungen, der sich
das Bein gebrochen hatte, und für all die Sportverletzten gab es die
wunderbaren Helden in den markigen Abenteuerromanen von Joseph Conrad und
Herman Melville statt Hefte von Sports Illustrated; statt Time und Newsweek Bücher von Dickens und Hemingway und Mark Twain. Welch feuchter Traum für jeden
Literaturliebhaber, in der Krankenstation der Steering School das Bett zu
hüten! Endlich ein Krankenhaus mit guter Lektüre.
    Als Jenny Fields zwölf Jahre an
der Steering School verbracht hatte, sagten die Schulbibliothekare, wenn sie
feststellten, dass sie ein verlangtes Buch nicht hatten, ganz
selbstverständlich: »Vielleicht ist es auf der Krankenstation.«
    Und in der Buchhandlung bekam man
zuweilen, wenn ein Buch nicht am Lager oder vergriffen war, die [58]  Empfehlung:
»Gehen Sie mal rüber zu Schwester Fields in die Krankenstation; vielleicht hat sie es.«
    Jenny runzelte die Stirn, wenn
sie eine solche Frage hörte, und sagte dann: »Ich glaube, es ist in Zimmer
sechsundzwanzig, im Nebengebäude. Aber McCarty liest es gerade. Er hat die
Grippe. Er wird es Ihnen wahrscheinlich gern geben, wenn er es durchhat.«
    Oder sie antwortete: »Das habe
ich zuletzt unten im Schwimmbad gesehen. Es könnte ein bisschen feucht sein,
jedenfalls der Anfang.«
    Es ist unmöglich, Jennys Einfluss
auf die Qualität der Erziehung an der Steering School einzuschätzen; doch sie
verwand nie ihren Zorn darüber, dass man sie zehn Jahre lang um den Nachlass
von zehn Prozent betrogen hatte. »Meine Mutter war die einzige Stütze dieser
Buchhandlung«, schrieb Garp. »Im Vergleich zu ihr las sonst niemand in Steering
je auch nur eine einzige Zeile.«
    Als Garp zwei war, bot die
Steering School Jenny einen Dreijahresvertrag an; sie war eine gute
Krankenschwester, darüber war man sich einig, und die leichte Abneigung, die
man gegen sie empfunden hatte, war in den beiden ersten Jahren nicht größer
geworden. Das Kind war schließlich wie alle Kinder;
im Sommer vielleicht ein bisschen brauner als die meisten und im Winter ein
bisschen blasser – und ein bisschen dick. Es hatte etwas Rundliches, wie ein in
Stoffbahnen eingewickeltes Eskimokind, auch wenn es nicht eingewickelt war. Und
die jüngeren Lehrer, die eben erst den letzten Krieg hinter sich gebracht
hatten, sagten, es habe die Form einer Bombe. Aber uneheliche Kinder sind [59]  schließlich
auch Kinder. Die Verstimmung über Jennys sonderbare Art hielt sich in
erträglichen Grenzen.
    Sie nahm den Dreijahresvertrag
an. Sie lernte, vervollkommnete sich und bahnte zugleich Garp den Weg durch die
Steering School. Diese Schule böte »eine höhere Bildung«, hatte ihr Vater
gesagt. Jenny wollte lieber sichergehen.
    Als Garp fünf war, wurde Jenny
Fields zur Oberschwester ernannt. Es war schwer, junge, flinke Schwestern zu
finden, die die Lebhaftigkeit und Wildheit der Jungen ertragen konnten; es war
schwerer, überhaupt jemanden zu finden, der gewillt war, auf dem Schulgelände
zu wohnen, und Jenny schien mit ihrer kleinen Wohnung im Seitenflügel des
Nebengebäudes der Krankenstation ganz zufrieden zu sein. In diesem Sinn wurde
Jenny vielen eine Mutter: Sie sprang mitten in der Nacht auf, wenn einer der
Jungen sich übergab oder nach ihr klingelte, oder sein Wasserglas umwarf. Oder
wenn die gelegentlich bösen Buben in den dunklen Mittelgängen der Schlafsäle
Unfug machten, mit ihren Krankenhausbetten herumrollten, Gladiatorenkämpfe in
Rollstühlen veranstalteten, durch die eisenvergitterten Fenster heimlich mit
Mädchen aus dem Ort redeten oder versuchten, an den dicken Efeuranken zwischen
den beiden alten Backsteingebäuden, der Krankenstation und ihrem Nebengebäude
hinunter- oder heraufzuklettern.
    Die Krankenstation war mit dem
Nebengebäude durch einen unterirdischen Gang verbunden, der gerade breit genug
war für ein Bett auf Rädern und rechts und links je eine schlanke Schwester.
Die bösen Buben spielten in dem Gang manchmal Bowling, was sich in dem
abgelegenen Seitenflügel für Jenny und Garp anhörte, als wären die [60]  Versuchsratten
und -kaninchen im Kellerlabor über Nacht riesengroß geworden und rollten die
Mülltonnen mit ihren kräftigen Schnauzen unter die Erde.
    Aber als Garp fünf war – als
seine Mutter zur

Weitere Kostenlose Bücher