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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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nicht tun.« Aber sie fügte »Bitte!« hinzu, weil sie seiner nicht so sicher war. Er hatte es gelassen; er war heftig mit ihr
gewesen, aber auf eine andere Art – eine Art, die ihr recht war. Es war
erregend, dass sie sich nicht vollständig auf ihn verlassen konnte. Aber dass
sie sich nicht auf sein Schweigen verlassen konnte,
war etwas anderes; wenn sich herausstellte, dass er über sie geredet hatte,
würde es aus sein.
    »Ich habe ihr nichts gesagt«,
beharrte Michael. »Ich habe gesagt: ›Margie, es ist zu Ende!‹ Oder irgendwas in
der Art. Ich habe ihr nicht einmal gesagt, dass es eine andere Frau gibt, und
ich habe ihr erst recht nichts von dir gesagt.«
    »Aber wahrscheinlich hat sie dich vorher über mich sprechen hören«, sagte Helen. »Ich meine,
ehe dies anfing.«
    »Sie hat dein Seminar sowieso nie
gemocht«, sagte Michael. » Darüber haben wir einmal
gesprochen.«
    »Sie hat das Seminar nie
gemocht?«, fragte Helen. Das überraschte sie ehrlich.
    [475]  »Na ja, sie ist nicht sehr
klug«, sagte Michael ungeduldig.
    »Es wäre besser, wenn sie es
nicht wüsste«, sagte Helen. »Im Ernst, du solltest es lieber herausfinden.«
    Aber er fand nichts heraus.
Margie Tallworth weigerte sich, mit ihm zu sprechen. Er versuchte, ihr am
Telefon einzureden, es sei nur, weil eine alte Freundin zu ihm zurückgekehrt
sei – sie sei von außerhalb gekommen; sie habe nicht gewusst, wo sie schlafen
solle; da habe das eine das andere ergeben. Aber Margie Tallworth hatte
aufgelegt, ehe er die Geschichte detailliert erzählen konnte.
    Helen rauchte ein bisschen mehr.
Ein paar Tage beobachtete sie Garp besorgt, und einmal hatte sie richtige
Schuldgefühle, als sie mit Garp schlief; sie hatte nicht deshalb mit ihm
geschlafen, weil sie es wollte, sondern weil sie ihn beruhigen wollte, falls er gedacht hatte, dass irgendetwas nicht stimmte.
    Er hatte es nicht gedacht,
jedenfalls nicht ernsthaft. Oder: er hatte es
gedacht, aber nur einmal, bei den blauen Malen auf den schmalen, straffen
Rückseiten von Helens Schenkeln; Garp war stark, aber mit seinen Kindern und
seiner Frau ging er sehr zärtlich um. Außerdem wusste er, wie Male von Fingern
aussehen, weil er Ringer war. Ungefähr einen Tag später bemerkte er die
gleichen kleinen blauen Fingermale auf den Rückseiten von Duncans Armen – da,
wo Garp ihn festhielt, wenn er mit dem Jungen rang –, und er kam zu dem Schluss,
dass er die Menschen, die er liebte, härter anfasste, als er wollte. Er kam zu
dem Schluss, dass Helens Fingermale ebenfalls von ihm stammten.
    Er war ein zu eitler Mann, um
leicht eifersüchtig zu sein. [476]  Und der Name, den er eines Morgens beim
Aufwachen auf den Lippen gehabt hatte, war ihm entfallen. Im Haus lagen keine
schriftlichen Arbeiten von Michael Milton mehr herum, die Helen nachts wach
hielten. Sie ging sogar immer früher zu Bett; sie brauchte den Schlaf.
    Helen ihrerseits entwickelte eine
Vorliebe für den nackten schwarzen Schaft des Schalthebels; seine scharfe Kante
fühlte sich abends, wenn sie von der Universität nach Hause fuhr, gut an ihrem
Daumenballen an, und oft presste sie die Hand absichtlich dagegen, bis sie
fühlte, dass sie nur noch um Haaresbreite von dem Druck entfernt war, der nötig
war, um ihre Haut aufzureißen. Sie konnte sich auf diese Weise Tränen in die
Augen treiben, und es gab ihr das Gefühl, wieder sauber zu sein, wenn sie nach
Hause kam – wenn die Jungen ihr von dem Fenster aus, wo der Fernseher stand,
zuwinkten und zuriefen und wenn Garp verkündete, was er zum Abendessen für sie
alle gekocht habe, wenn sie die Küche betrat.
    Margie Tallworths mögliches
Wissen hatte Helen geängstigt, weil Helen, obwohl sie Michael – und sich selbst – gesagt hatte, dass es aus sein würde, in dem Moment, in dem irgendjemand
davon erfuhr, inzwischen wusste, dass es schwerer zu beenden sein würde, als
sie sich zuerst vorgestellt hatte. Sie umarmte Garp in der Küche und hoffte auf
Margie Tallworths Ahnungslosigkeit.
    Margie Tallworth war ahnungslos, aber sie war nicht ahnungslos, was
Michaels Beziehung zu Helen betraf. Sie war ahnungslos in vielen Dingen, aber
darüber wusste sie Bescheid. Sie war ahnungslos insofern, als sie glaubte, ihre
eigene oberflächliche Leidenschaft für Michael habe »das [477]  Sexuelle«, wie sie
gesagt hätte, »überwunden«, während Helen, wie sie annahm, sich mit Michael nur
amüsierte. In Wahrheit hatte Margie Tallworth »im Sexuellen«, wie sie gesagt
hätte, förmlich

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