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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Taktgefühl beweisen. Und jetzt hielt sie die süßlich duftende
Mitteilung in der Hand und stand [480]  damit unsicher vor der Haustür der Garps,
als es anfing zu regnen.
    Nichts ließ Garp schneller umkehren
als Regen. Er hasste es, wenn seine Laufschuhe nass wurden. Er lief bei Kälte
und bei Schnee, aber wenn es regnete, lief er fluchend nach Hause und kochte
eine Stunde lang in Schlechtwetterstimmung. Dann zog er sich einen Poncho über
und fuhr mit dem Bus zur Turnhalle zum Ringertraining. Unterwegs holte er Walt
von der Kindertagesstätte ab und nahm ihn mit in die Turnhalle; er rief zu
Hause an, wenn er in der Turnhalle war, um zu sehen, ob Duncan schon aus der
Schule gekommen war. Manchmal gab er Duncan Anweisungen, wenn das Essen noch
kochte, aber meistens erteilte er ihm nur Vorsichtsmaßregeln fürs Radfahren und
fragte ihn die Notrufnummern ab: Wusste Duncan, welche Nummer er bei Feuer,
einer Explosion, einem bewaffneten Raubüberfall, einem Aufruhr auf der Straße
wählen musste?
    Dann rang er, und nach dem
Training sauste er mit Walt unter die Dusche; wenn er danach wieder zu Haus
anrief, war Helen da und konnte ihn und Walt abholen.
    Deshalb mochte Garp keinen Regen;
er rang zwar gern, aber Regen brachte seine schlichten Pläne durcheinander. Und
Margie Tallworth war nicht darauf gefasst, ihn plötzlich keuchend und wütend
hinter sich im Eingang zu erblicken.
    »Aaaahhh!«, schrie sie, und sie
umklammerte ihre duftende Mitteilung so fest, als wäre sie die Hauptschlagader
eines Tieres, das sie vor dem Verbluten bewahren wollte.
    »Hallo«, sagte Garp. Für ihn sah
sie wie eine Babysitterin aus. Er hatte sich Babysitterinnen seit einiger Zeit [481]  abgewöhnt.
Er lächelte sie mit offener Neugier an – das ist alles.
    »Aaah«, sagte Margie Tallworth;
sie konnte nicht sprechen. Garp blickte auf die zerknüllte Mitteilung in ihrer
Hand; sie schloss die Augen und hielt ihm die Mitteilung hin, so als hielte sie
die Hand in ein Feuer.
    Wenn Garp zuerst gedacht hatte,
sie sei eine von Helens Studentinnen und habe etwas auf dem Herzen, dachte er
jetzt etwas anderes. Er sah, dass sie nicht sprechen konnte, und er sah die
äußerste Verlegenheit, mit der sie ihm die Mitteilung hinhielt. Garps
Erfahrungen mit sprachlosen Frauen, die verlegen Mitteilungen aushändigten,
beschränkten sich auf Ellen-Jamesianerinnen, und er unterdrückte seinen
aufwallenden Zorn darüber, dass sich ihm abermals eine unheimliche
Ellen-Jamesianerin vorstellte. Oder war sie gekommen, um ihn für irgendetwas zu
ködern – ihn, den einsiedlerisch lebenden Sohn der aufregenden Jenny Fields?
    Hallo!
Ich heiße Margie. Ich bin eine Ellen-Jamesianerin,
    würde ihre törichte
Mitteilung lauten.
    Wissen
Sie, was eine Ellen-Jamesianerin ist?
    Als Nächstes wirst du
erfahren, dachte Garp, dass sie wie die religiösen Trottel organisiert sind,
die einem diese biederen Broschüren über Jesus ins Haus bringen. Es machte ihn
zum Beispiel krank, dass die Ellen-Jamesianerinnen jetzt nicht einmal mehr vor
so jungen Mädchen [482]  haltmachten. Sie ist zu jung, dachte er, um zu wissen, ob
sie im Leben eine Zunge haben will oder nicht. Er schüttelte den Kopf und wies
die Mitteilung zurück.
    »Ja, ja, ich weiß, ich weiß«,
sagte Garp. »Na und?«
    Darauf war die arme Margie
Tallworth nicht gefasst. Sie war wie ein Racheengel gekommen – ihre
schreckliche Pflicht, und wie sie auf ihr lastete! –, um die schlechte
Nachricht zu überbringen, die irgendwie bekanntgemacht werden musste. Aber er wusste es bereits! Und er machte sich nicht einmal etwas
daraus.
    Sie umklammerte die Mitteilung
mit beiden Händen und drückte sie so fest an ihre hübschen bebenden Brüste,
dass mehr als der Duft von ihr – der Mitteilung oder dem Mädchen – ausging und eine Welle ihres Jungmädchengeruchs Garp
umhüllte, der dastand und sie unfreundlich ansah.
    »Ich sagte: ›Na und?‹«, sagte
Garp. »Erwarten Sie tatsächlich, dass ich Respekt vor einer Frau habe, die sich
ihre eigene Zunge abschneidet?«
    Margie brachte nur ein Wort
hervor: »Was?« Sie hatte jetzt Angst. Jetzt erriet
sie, warum der arme Mann den ganzen Tag ohne Arbeit durch sein Haus wanderte:
Er war geisteskrank.
    Garp hatte das Wort deutlich
gehört; es war kein gelalltes »Aaahhh« und nicht nur ein kleines »Aaa« – es war
nicht das Wort einer amputierten Zunge. Es war ein vollständiges Wort.
    »Was?«, sagte er.
    »Was?«, sagte sie wieder.
    Er starrte auf die Mitteilung,
die sie

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