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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Helen: aber sie entsprach nicht ihren
Vorstellungen von der Lippe eines Geliebten.
    »Was hast du denn mit deinem
Schnurrbart gemacht?«, fragte sie.
    »Ich dachte, er gefalle dir
nicht«, sagte er. »Ich habe es für dich gemacht.«
    »Aber er gefiel mir«, sagte sie und zitterte im Eisregen.
    »Bitte, steig ein«, sagte er.
    Sie schüttelte den Kopf; ihre Bluse
klebte an ihrer kalten Haut, und ihr langer Cordrock fühlte sich schwer wie ein
Kettenhemd an; ihre hohen Stiefel glitten in dem härter werdenden Eismatsch
aus.
    »Ich fahre nirgendwo mit dir
hin«, versprach er. »Wir bleiben einfach hier im Auto sitzen. Wir können nicht
einfach aufhören «,sagte er
wieder.
    »Wir wussten, dass es eines Tages
so kommen würde«, sagte Helen. »Wir wussten, dass es nur für kurze Zeit war.«
    Michael Milton ließ den Kopf auf
den blitzenden Hupring sinken; aber es kam kein Ton, der große Buick war
abgestellt. Der Regen haftete an den Fenstern – das Auto überzog sich langsam
mit Eis.
    »Steig bitte ein «, stöhnte Michael Milton. »Ich fahre nicht«, fügte er scharf hinzu.
»Ich habe keine Angst vor ihm. Ich muss nicht tun, was er sagt.«
    » Ich sage es aber auch«, sagte Helen. »Du musst fahren.«
    »Ich fahre nicht«, sagte Michael
Milton. »Ich weiß Bescheid über deinen Mann. Ich weiß alles über ihn.«
    Sie hatten nie über Garp
gesprochen; Helen hatte es nicht zugelassen. Sie wusste nicht, was Michael
Milton meinte.
    [505]  »Er ist ein zweitrangiger
Schriftsteller«, sagte Michael kühn. Helen sah überrascht aus; ihres Wissens
hatte Michael Milton nie etwas von Garp gelesen. Er hatte ihr einmal erklärt,
er lese nie lebende Schriftsteller; er behauptete, er lege Wert auf die
Perspektive, die man nach seinen Worten nur gewinnen könne, wenn ein
Schriftsteller schon einige Zeit tot sei. Zum Glück wusste Garp das nicht über ihn – es hätte seine Verachtung für den
jungen Mann noch vergrößert. Jetzt vergrößerte es Helens Enttäuschung über den
armen Michael.
    »Mein Mann ist ein sehr guter
Schriftsteller«, sagte sie freundlich, und ein Schauder ließ sie so
zusammenzucken, dass sie ihre verschränkten Arme voneinander lösen und sie
wieder neu verschränken musste.
    »Er ist aber kein erstrangiger Schriftsteller«, erklärte Michael bestimmt.
»Higgins hat es gesagt. Du musst doch wissen, welche Meinung man an der
Universität von deinem Mann hat.«
    Higgins, das wusste Helen, war
ein einmalig exzentrischer und unangenehmer Kollege, der es gleichzeitig
fertigbrachte, zum Einschlafen langweilig und töricht
zu sein. Helen fand nicht gerade, dass Higgins die Universität verkörperte –
außer dass Higgins wie viele ihrer weniger sicheren Kollegen die Angewohnheit
hatte, bei den graduierten Studenten über die anderen Professoren zu tratschen;
Higgins meinte vielleicht, dass er auf diese verzweifelte Art das Vertrauen der
Studenten gewann.
    »Ich habe nicht gewusst, dass man
an der Universität überhaupt eine Meinung über Garp
hat«, sagte Helen kühl. »Die meisten der Kollegen lesen nichts Modernes.«
    [506]  »Diejenigen, die es tun, sagen
jedenfalls, er sei zweitrangig«, sagte Michael Milton.
    Dieser klägliche Neid trug nicht
dazu bei, Helens Herz für den Jungen zu erwärmen, und sie wandte sich ab, um ins
Haus zurückzugehen.
    »Ich fahre nicht!«, schrie
Michael Milton. »Ich werde ihm alles von uns
erzählen! Sobald er kommt. Er kann uns nicht sagen, was wir zu tun haben.«
    » Ich sage es dir, Michael«, erklärte Helen.
    Er ließ wieder den Kopf auf die
Hupe plumpsen und begann zu weinen. Sie ging wieder zu ihm und berührte ihn
durch das Fenster an der Schulter.
    »Ich setze mich eine Minute zu
dir«, sagte Helen. »Aber du musst mir versprechen,
dass du dann sofort fährst. Ich will auf keinen Fall, dass er oder die Kinder
uns hier sehen.«
    Er versprach es.
    »Gib mir den Schlüssel«, sagte
Helen. Sein verletzter, trauriger Blick – dass sie immer noch den Verdacht
hatte, er würde mit ihr davonfahren – rührte Helen wieder zutiefst. Sie steckte
den Schlüssel in die tiefe Tasche ihres langen Rocks und ging zur
Beifahrerseite und stieg ein. Er kurbelte sein Fenster hoch, und sie saßen da,
ohne sich zu berühren, während die Fenster ringsum beschlugen und das Auto
unter einer Eishülle knisterte.
    Dann brach er völlig zusammen und
erklärte ihr, sie habe mehr für ihn bedeutet als Frankreich und das alles – und
sie hielt ihn dann und stand Todesängste aus, wie viel Zeit

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