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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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dort in dem gefrorenen Auto vergangen war oder verging. Selbst wenn es kein
langer Film war, mussten sie noch eine gute halbe oder eine Dreiviertelstunde
haben; aber Michael [507]  Milton war nicht im Entferntesten so weit, dass er
fahren konnte. Sie küsste ihn vehement, in der Hoffnung, das würde etwas
nützen, aber er fing nur an, ihre nassen, kalten Brüste zu streicheln. Sie
fühlte sich ihm gegenüber genauso erstarrt, wie sie sich draußen in dem härter
werdenden Eismatsch gefühlt hatte. Aber sie ließ zu, dass er sie anfasste.
    »Lieber Michael«, sagte sie und
dachte die ganze Zeit krampfhaft nach.
    »Wie können wir aufhören?«, war
alles, was er sagte.
    Aber Helen hatte bereits
aufgehört; sie dachte nur noch darüber nach, wie sie ihn dazu bringen konnte, dass er aufhörte. Sie schob ihn in die richtige Stellung
auf dem Fahrersitz und streckte sich auf der langen Sitzbank aus, strich ihren
Rock glatt, damit er die Knie bedeckte, und legte den Kopf auf seinen Schoß.
    » Erinnere dich bitte«, sagte sie. »Versuch es bitte. Das war für mich das Schönste – als
ich mich einfach von dir fahren ließ und wusste, wohin wir fuhren. Kannst du nicht
glücklich sein – kannst du dich nicht einfach daran erinnern und es dabei
bewenden lassen?«
    Er saß stocksteif am Steuer und
zwang sich, mit beiden Händen das Lenkrad zu umklammern, verkrampfte beide
Schenkel unter ihrem Kopf, und seine Erektion drückte gegen ihr Ohr.
    »Versuch doch bitte, es dabei
bewenden zu lassen, Michael«, sagte sie freundlich. Und sie verharrten einen
Augenblick so und stellten sich vor, der alte Buick brächte sie wieder zu
Michaels Wohnung. Aber Michael Milton konnte sich nicht mit Vorstellungen
zufriedengeben. Er ließ eine [508]  Hand an Helens Nacken sinken und packte ihn
sehr fest; mit der anderen Hand machte er seinen Hosenschlitz auf.
    »Michael!«, sagte sie scharf.
    »Das wolltest du doch schon immer
gern tun«, erinnerte er sie.
    »Es ist aus, Michael.«
    »Nein, noch nicht«, sagte er.
Sein Penis streifte ihre Stirn, bog ihre Wimpern, und sie erkannte, dass dies
der alte Michael war – der Michael der Wohnung, der sie manchmal gern mit einer
gewissen Brutalität behandelte. Jetzt gefiel es ihr
nicht. Aber wenn ich mich wehre, dachte sie, gibt es eine Szene. Sie brauchte
sich nur Garp als Teilnehmer der Szene vorzustellen, um zu dem Schluss zu
kommen, dass sie jede Szene vermeiden musste, um
jeden Preis.
    »Sei kein Schuft, sei kein
Schwein, Michael«, sagte sie. »Mach es nicht kaputt.«
    »Das wolltest du schon immer gern
tun«, sagte er. »Aber es war dir nicht sicher genug. Gut, jetzt ist es sicher.
Das Auto bewegt sich nicht einmal. Jetzt kann es keinen Unfall geben«, sagte
er.
    Seltsamerweise, begriff sie,
hatte er es ihr plötzlich leichter gemacht. Es ging ihr nicht mehr darum, ihm
schonend den Laufpass zu geben; sie war ihm dankbar, dass er ihr so
nachdrücklich geholfen hatte, ihre Prioritäten zu erkennen. Ihre Prioritäten,
erkannte sie mit ungeheurer Erleichterung, waren Garp und ihre Kinder. Walt
sollte bei diesem Wetter nicht draußen sein, dachte sie zitternd. Und Garp, das
wusste sie, war für sie erstrangiger als alle ihre
zweitrangigen Kollegen und graduierten Studenten zusammen.
    Michael Milton hatte zugelassen,
dass sie eine Vulgarität [509]  an ihm entdeckte, die Helen irgendwie notwendig
schien. Blas ihm einen, dachte sie sachlich und nahm
ihn in den Mund, dann wird er endlich fahren. Sie
dachte bitter, dass Männer, wenn sie einmal ejakuliert hatten, ziemlich schnell
von ihren Forderungen abgingen. Und von ihrer kurzen Erfahrung in Michael
Miltons Wohnung her wusste Helen, dass es nicht lange dauern würde.
    Auch die Zeit spielte bei ihrem
Entschluss eine Rolle; selbst wenn sie in den kürzesten Film gegangen waren,
blieben ihr noch mindestens zwanzig Minuten. Sie nahm es sich vor, als wäre es
das Letzte, was sie noch tun musste, um eine unangenehme Sache hinter sich zu
bringen, die ein besseres, aber auch ein schlimmeres Ende hätte nehmen können.
Sie war ein bisschen stolz: Sie hatte zumindest sich selber bewiesen, dass ihre
Familie ihre erste Priorität war. Sogar Garp wüsste
das vielleicht zu schätzen, dachte sie; aber erst eines Tages, nicht gleich.
    Sie war so entschlossen, dass sie
kaum merkte, wie Michael Miltons Griff um ihren Nacken sich löste; er fasste
mit beiden Händen wieder nach dem Steuer, als sei er es, der diese Erfahrung
lenkte. Lass ihn denken, was er will, dachte

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