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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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heilende
Geräusch des Meeres, das heranbrandete und sich wieder entfernte und alles
reinwusch.
    Sein Leben lang sollte Duncan
Garp das Geräusch des Meeres mit seiner Genesung assoziieren. Seine Großmutter
würde den Verband abnehmen; das Loch, wo Duncans rechtes Auge gewesen war,
wurde gewissermaßen einer Gezeitenspülung unterzogen. Sein Vater und seine
Mutter konnten den Anblick jenes leeren Lochs nicht ertragen, aber Jenny hatte
Erfahrung darin, Wunden anzustarren, bis sie verschwanden. Bei Jenny Fields,
seiner Großmutter, sah Duncan sein erstes Glasauge. »Siehst du?«, sagte Jenny.
»Es ist groß und braun; es ist nicht ganz so hübsch wie dein linkes, aber du
brauchst nur aufzupassen, dass die Mädchen zuerst dein linkes sehen.« Das war keine
sehr feministische Bemerkung, nahm sie an, aber Jenny sagte immer, dass sie
zuerst und vor allem anderen Krankenschwester war.
    [517]  Duncans Auge war ausgestochen
worden, als er zwischen den Vordersitzen nach vorn geschleudert worden war; der
unbedeckte Schaft des Schalthebels war das Erste, was seinen Fall aufhielt.
Garps rechter Arm, der in die Lücke zwischen den Sitzen fuhr, kam zu spät;
Duncan glitt darunter hinweg, wobei er sein rechtes Auge einbüßte und sich drei
Finger der rechten Hand brach, die gegen den Auslösemechanismus des
Sicherheitsgurts gerammt wurde.
    Der Volvo war auf keinen Fall
schneller als vierzig – maximal fünfzig – Kilometer in der Stunde gefahren,
aber die Kollision war phänomenal. Der Drei-Tonnen-Buick gab Garps rollendem
Auto kaum einen Zentimeter nach. Die Kinder in dem Volvo waren in dem Moment
des Aufpralls wie Eier ohne Eierkarton – lose in der Einkaufstasche. Auch in
dem Buick hatte der Stoß eine überraschende Wucht.
    Helens Kopf wurde nach vorn
geschleudert, verfehlte knapp die Steuersäule, die sie im Nacken traf. Viele
Ringerkinder haben robuste Nacken: der von Helen brach jedenfalls nicht – auch
wenn sie fast sechs Wochen lang einen Stützverband trug und den Rest ihres
Lebens unter chronischen Rückenschmerzen litt. Ihr rechtes Schlüsselbein brach,
vielleicht unter dem Aufwärtshaken von Michael Miltons Knie, und ihre Nase
wurde, sicherlich von Michael Miltons Gürtelschnalle, quer über dem Nasenrücken
aufgerissen – was neun Stiche erforderte. Helens Mund wurde mit solcher Wucht zugedrückt,
dass sie zwei Zähne einbüßte und zwei Stiche in der Zunge brauchte.
    Zuerst dachte sie, sie hätte sich
die Zunge abgebissen, weil sie fühlen konnte, wie sie in ihrem Mund, der voller [518]  Blut war, umherschwamm; aber ihr Kopf schmerzte so sehr, dass sie den Mund
nicht zu öffnen wagte, bis sie Luft holen musste, und sie konnte den rechten
Arm nicht bewegen. Sie spie das, was sie für ihre Zunge hielt, in ihre linke
Handfläche. Es war natürlich nicht ihre Zunge. Es war das, was drei Viertel von
Michael Miltons Penis ausmachte.
    Der warme Blutstrom in ihrem
Gesicht kam Helen vor wie Benzin; sie fing an zu schreien – nicht aus Angst um
sich, sondern um Garp und die Kinder. Sie wusste, was den Buick getroffen
hatte. Sie zappelte, um aus Michael Miltons Schoß herauszukommen; sie musste
sehen, was ihrer Familie passiert war. Sie ließ das, was sie für ihre Zunge
hielt, auf den Boden des Wagens fallen und boxte Michael Milton, dessen Schoß sie gegen die Steuersäule presste, mit ihrem
unversehrten linken Arm. Erst da hörte sie andere Schreie als die ihren.
Michael Milton schrie natürlich, aber Helen horchte weiter – bis zum Volvo
hinüber. Das war Duncan, der da schrie, sie war sich
ganz sicher, und Helen kämpfte sich mit ihrem linken Arm über Michael Miltons
blutenden Schoß zum Türgriff durch. Als die Tür aufging, stieß sie Michael aus
dem Buick hinaus; sie fühlte sich unglaublich stark. Michael behielt seine
doppelt gekrümmte Sitzhaltung bei; er kam seitwärts in den gefrierenden Matsch
zu liegen, als säße er immer noch am Steuer, doch er brüllte und blutete wie
ein Stier.
    Als die Türbeleuchtung in dem
riesigen Buick aufleuchtete, sah Garp undeutlich das Blut im Volvo – Duncans
Gesicht war blutüberströmt, bis auf den schreienden Mund. Auch Garp fing an zu
brüllen, aber sein Brüllen war nicht lauter als ein Wimmern; seine eigenen,
seltsamen [519]  Geräusche erschreckten ihn so sehr, dass er versuchte, beruhigend
auf Duncan einzureden. Da merkte Garp, dass er gar nicht reden konnte.
    Als Garp den Arm ausgestreckt
hatte, um Duncans Fall aufzuhalten, hatte er sich auf dem Fahrersitz

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