Garp und wie er die Welt sah
Und Meckler war es auch gewesen, wie Jenny fest glaubte,
der bei der Windpockenepidemie vor ein paar Jahren den dritten Stock der
Krankenstation organisiert hatte: Die Jungen wichsten der Reihe nach und kamen
mit ihrem heißen Sperma in der Hand zu den Mikroskopen im Labor gelaufen – um
zu sehen, ob sie steril waren.
Aber Meckler, dachte Jenny, hätte
eher ein Loch ins Netz des Schlägers geschnitten – und den nutzlosen Schläger
in den Händen des schlafenden Hathaway gelassen.
»Ich wette, Garp hat ihn«, sagte
Jenny zu Hathaway. »Wenn wir Garp finden, finden wir auch deinen Schläger.« Sie
unterdrückte zum hundertsten Mal den Impuls, ihre Hand auszustrecken und die
Haartolle zurückzustreichen, die Hathaways eines Auge fast ganz verdeckte.
Stattdessen drückte sie zärtlich Hathaways große Zehen, die aus seinen
Gipsverbänden hervorschauten.
[66] Wenn Garp Lacrosse spielen
wollte, dachte Jenny, wo würde er dann hingehen? Nicht nach draußen, denn
draußen ist es zu dunkel; er würde den Ball verlieren. Und der einzige Ort, wo
er die Sprechanlage vielleicht nicht gehört hatte, war der unterirdische Gang
zwischen dem Nebengebäude und dem Hauptgebäude – ein idealer Ort, um den Ball
zu schleudern, wie Jenny wusste. Schon einmal hatte Jenny hier ein
nachmitternächtliches Trainingsspiel abgepfiffen. Sie fuhr mit dem Fahrstuhl
direkt in den Keller. Hathaway ist ein reizender Junge, dachte sie. Garp könnte
Schlimmeres passieren, als so zu werden. Aber auch Besseres.
Hathaway dachte zwar langsam,
aber er dachte. Er hoffte, dass dem kleinen Garp nichts zugestoßen war. Er
hatte den aufrichtigen Wunsch, aufstehen und bei der Suche nach dem Jungen
helfen zu können. Garp war oft in Hathaways Zimmer zu Gast. Ein verkrüppelter
Athlet mit zwei Gipsbeinen – das gab es nicht alle Tage. Hathaway hatte Garp
erlaubt, seine Gipsbeine zu bemalen; zwischen und auf den Autogrammen von
Freunden waren die mit Buntstift gemalten Gesichter und Monster aus Garps
Phantasiewelt. Hathaway betrachtete jetzt die Zeichnungen auf seinen
Gipsverbänden und machte sich Sorgen um Garp. Da entdeckte er den Lacrosseball
zwischen seinen Oberschenkeln; er hatte ihn durch den Gips nicht gefühlt. Er
lag da, als wäre er ein Ei, das Hathaway gelegt hatte und ausbrütete. Wie
konnte Garp ohne Ball Lacrosse spielen?
Als er die Tauben hörte, wusste
Hathaway, dass Garp nicht Lacrosse spielte. Die Tauben! Jetzt fiel es ihm
wieder ein. Er hatte sich bei dem Jungen über sie beklagt. Die [67] Tauben mit
ihrem verdammten Gurren, ihrem glucksenden Getue unter den Traufen und in den
Regenrinnen des steilen Schieferdachs ließen ihn nachts nicht schlafen. Das war
ein Problem für alle, die im obersten Stockwerk der Steering School schliefen – Tauben schienen den Campus zu beherrschen. Die
Hausmeister hatten die meisten Traufen und Lieblingsplätze der Tauben mit
feinem Maschendraht abgedeckt, aber die Tauben schliefen bei trockenem Wetter
in den Regenrinnen und fanden Nischen unter den Dächern und Sitzgelegenheiten
in dem alten knorrigen Efeu. Es gab kein Mittel, sie von den Gebäuden
fernzuhalten. Und wie sie gurren konnten! Hathaway hasste sie. Er hatte zu Garp
gesagt, wenn er nur ein gesundes Bein hätte, würde er
sie schon erwischen.
»Wie denn?«, fragte Garp.
»Sie fliegen nachts nicht gern«,
erklärte Hathaway dem Jungen. Er hatte in Bio II einiges über die Gewohnheiten der Tauben gelernt; Jenny Fields hatte auch an
dem Kurs teilgenommen. »Ich könnte aufs Dach klettern«, sagte Hathaway zu Garp,
»nachts, wenn es nicht regnet, und sie in der Regenrinne fangen. Das ist
nämlich alles, was sie tun – in der Regenrinne sitzen und die ganze Nacht
gurren und scheißen.«
»Aber wie würdest du sie fangen?«, fragte Garp.
Und Hathaway schwenkte seinen
Lacrosseschläger und schaukelte den Ball darin hin und her. Dann ließ er den
Ball zwischen seine Beine rollen und senkte das Netz des Schlägers behutsam
über Garps kleinen Kopf. »So«, sagte er. »Damit würde ich sie mühelos erwischen – mit meinem Lacrosseschläger. Eine nach der andern, bis ich sie alle hätte.«
[68] Hathaway erinnerte sich, wie
Garp ihm zugelächelt hatte – dem großen freundlichen Jungen mit den beiden
heroischen Gipsbeinen. Hathaway blickte aus dem Fenster, sah, dass es
wahrhaftig dunkel war und nicht regnete. Hathaway drückte auf seine Klingel.
»Garp!«, rief er aus. »O Gott!« Er drückte mit dem Daumen auf den Klingelknopf
und ließ nicht
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