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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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los.
    Als Jenny Fields die Signallampe
vom vierten Stock aufleuchten sah, war ihr erster Gedanke, dass Garp
wahrscheinlich Hathaways Lacrosseausrüstung zurückgebracht hatte. Was für ein
braver Junge, dachte sie und fuhr mit dem Fahrstuhl wieder hoch in den vierten
Stock. Ihre guten Schwesternschuhe quietschten, als sie zu Hathaways Zimmer
rannte. Sie sah den Lacrosseball in Hathaways Hand. Sein eines Auge, das
deutlich sichtbare, blickte ängstlich.
    »Er ist auf dem Dach«, sagte
Hathaway zu ihr.
    »Auf dem Dach!«, sagte Jenny.
    »Er versucht, mit meinem Lacrosseschläger
Tauben zu fangen«, sagte Hathaway.
    Ein ausgewachsener Mann
konnte, wenn er auf dem oberen Absatz der Feuerleiter stand, mit den Händen
über den Rand der Regenrinne greifen. Zum Reinigen der Regenrinnen – wenn alle
Blätter abgefallen waren und dann noch einmal vor den schweren
Frühjahrsregenfällen – wurden in der Steering School immer nur große Männer herangezogen, weil die kleineren darüber
klagten, dass sie, wenn sie in die Regenrinnen griffen, Dinge anfassten, die
sie nicht sehen könnten – tote Tauben und verweste Eichhörnchen und
undefinierbares schleimiges Zeug. Nur die großen Männer [69]  konnten, wenn sie
auf den obersten Absätzen der Feuerleitern standen, in die Regenrinnen
hineinschauen, ehe sie zugriffen. Die Rinnen waren so breit und fast so tief
wie Schweinetröge, aber nicht so stabil – und sie waren alt. Damals war alles an der Steering School alt.
    Als Jenny Fields aus der Feuertür
des vierten Stockwerks trat und auf der Feuerleiter stand, konnte sie die
Regenrinne kaum mit den Fingerspitzen erreichen; sie konnte nicht über die
Regenrinne auf das steile Schieferdach sehen – und bei der Dunkelheit und dem
Nebel konnte sie nicht einmal die ganze Unterseite der Regenrinne bis zu den
beiden Ecken des Gebäudes erkennen. Garp konnte sie erst recht nicht sehen.
    »Garp?«, flüsterte sie. Sie
hörte, wie vier Etagen unter ihr, zwischen den Büschen und den hier und da
aufblitzenden Motorhauben oder Dächern parkender Autos, ein paar Jungen
ebenfalls nach ihm riefen. »Garp?«, flüsterte sie etwas lauter.
    »Mom?«, fragte er, und sie
erschrak – obwohl sein Flüstern leiser war als ihres. Seine Stimme kam
anscheinend aus nächster Nähe, aber sie konnte ihn nicht sehen. Dann sah sie,
wie sich das Netz des Lacrosseschlägers wie die sonderbare gewebte Klaue eines
fremdartigen Nachttiers vor dem nebelverhangenen Mond abzeichnete; es ragte
ziemlich genau über ihr aus der Regenrinne heraus. Als sie jetzt nach oben
griff, ertastete sie zu ihrem Schrecken Garps Bein: Es war durch die verrostete
Rinne gebrochen, die seine Hose zerrissen und ihn zerschrammt hatte. Nun war er
dort eingekeilt: das eine Bein hing bis zur Hüfte durch die Rinne, das andere
Bein lag ausgestreckt in der Rinne hinter ihm, [70]  parallel zum Rand des steilen
Schieferdachs. Garp lag auf dem Bauch in der knarrenden Regenrinne.
    Als er durch die Rinne gebrochen
war, hatte er sich zu sehr erschrocken, um rufen zu können; er konnte spüren,
dass der ganze brüchige Trog durchgerostet war und jeden Moment abfallen
konnte. Seine Stimme, dachte er, könnte das Dach zum
Einsturz bringen. Er lag mit der Wange am Boden der Rinne und beobachtete durch
ein kleines Loch im Rost die Jungen unten, vier Etagen unter ihm, auf dem
Parkplatz und zwischen den Büschen, wo sie nach ihm suchten. Der
Lacrosseschläger, dessen Netz tatsächlich eine überraschte Taube enthalten
hatte, war über den Rand der Rinne gerutscht, so dass der Vogel freikam.
    Die Taube hatte sich, obwohl sie
gefangen gewesen und wieder freigekommen war, nicht bewegt. Sie hockte in der
Rinne und gab ihre kurzen dummen Laute von sich. Jenny ging auf, dass Garp die
Regenrinne nicht über die Feuerleiter erreicht haben konnte, und sie
erschauerte bei dem Gedanken, wie er mit dem Lacrosseschläger in der einen Hand
am Efeu zum Dach hinaufgeklettert war. Sie hielt sein Bein ganz fest; an seiner
nackten, warmen Wade klebte ein wenig Blut, aber er hatte sich an der
schartigen Kante nur leicht geschnitten. Eine Tetanusspritze, dachte sie; das
Blut war fast getrocknet, und Jenny glaubte nicht, dass er genäht werden musste – obwohl sie die Wunde im Dunkeln nicht klar erkennen konnte. Sie überlegte,
wie sie ihn herunterholen sollte. In der Tiefe flimmerten die Forsythien im
Licht der unteren Fenster; aus dieser Entfernung sahen die gelben Blüten (für
sie) wie die Zungen kleiner Gasflammen

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