Garp und wie er die Welt sah
aus.
[71] »Mom?«, fragte Garp.
»Ja«, flüsterte sie. »Ich halte
dich.«
»Nicht loslassen«, sagte er.
»Okay«, sagte sie zu ihm.
Wie durch ihre Stimme ausgelöst,
sackte die Rinne noch ein Stückchen tiefer.
»Mom!«, sagte Garp.
»Es ist alles okay«, sagte Jenny.
Sie überlegte, ob es nicht das Beste wäre, es mit einem Ruck zu versuchen und
zu hoffen, dass sie ihn einfach durch die verrostete Rinne ziehen konnte. Aber
dann würde womöglich die ganze Rinne vom Dach abreißen, und was dann ?, dachte sie. Sie sah, wie sie beide von der
Feuerleiter gefegt wurden und in die Tiefe stürzten. Aber sie wusste auch, dass
kein Mensch auf die Regenrinne steigen und den Jungen
aus dem Loch ziehen und ihn dann über den Rand zu ihr herunterlassen konnte.
Die Rinne trug kaum einen Fünfjährigen; sie würde bestimmt keinen Erwachsenen
tragen. Und Jenny wusste, dass sie Garps Bein nicht lange genug loslassen
würde, damit es jemand versuchen konnte.
Miss Creen, die neue
Krankenschwester, sah die beiden von unten und rannte ins Haus, um Rektor
Bodger anzurufen. Schwester Creen dachte an den Suchscheinwerfer, der an Rektor
Bodgers dunklem Auto angebracht war (und mit dem er jeden Abend den Campus nach
Jungen absuchte, die nach Zapfenstreich noch draußen waren). Trotz der Beschwerden
der Gärtner fuhr Bodger über die Fußwege und über die weichen Rasenflächen,
richtete seinen Suchscheinwerfer auf das dichte Gebüsch neben den Gebäuden und
machte so den Campus zu einem unsicheren [72] Ort für Herumtreiber – oder für
Verliebte, die auf die freie Natur angewiesen waren.
Schwester Creen rief auch Dr.
Pell an, weil sie in Krisensituationen immer auf Leute verfiel, die
Verantwortung übernehmen würden. Sie dachte nicht an die Feuerwehr, ein
Gedanke, der Jenny durch den Kopf ging; aber Jenny fürchtete, sie würden zu
lange brauchen und die Rinne würde vollständig herunterbrechen, bevor sie
eintrafen; schlimmer noch, sie würden, so malte sie sich aus, darauf bestehen,
dass sie ihnen alles überließ, und sie zwingen, Garps
Bein loszulassen.
Überrascht blickte Jenny zu Garps
kleinem durchnässten Turnschuh empor, der nun in dem jähen, gespenstischen
Lichtstrahl von Rektor Bodgers Suchscheinwerfer baumelte. Das Licht störte und
verwirrte die Tauben, die wahrscheinlich keine sehr klare Vorstellung vom
Morgengrauen hatten und nun in der Regenrinne kurz vor irgendeiner Entscheidung
zu stehen schienen; ihr Gurren und die scharrenden Geräusche ihrer Krallen
wurden hektischer.
Die Jungen, die in ihren weißen
Krankenhausnachthemden unten auf dem Rasen um Rektor Bodgers Auto herumliefen,
machten den Eindruck, als hätten sie aufgrund der Ereignisse den Verstand
verloren – oder aufgrund der scharfen Kommandos, mit denen Rektor Bodger sie
hin und her scheuchte, sie dieses oder jenes holen ließ.
Bodger nannte alle Jungen
»Männer«. So bellte er zum Beispiel: »Los, Männer, wir legen eine Reihe
Matratzen unter die Feuerleiter! Aber schnell!« Bodger hatte an der Steering
School zwanzig Jahre lang Deutsch unterrichtet, ehe er zum Rektor ernannt
wurde; seine Kommandos [73] klangen wie das Schnellfeuer herunterkonjugierter
deutscher Verben.
Die »Männer« stapelten Matratzen
aufeinander und äugten durch die Streben der Feuerleiter zu Jennys
Schwesternkleid hinauf, das im Licht des Suchscheinwerfers wunderbar weiß
aufleuchtete. Einer der Jungen stand direkt am Gebäude, genau unter der
Feuerleiter, und der Blick unter Jennys Rock und auf ihre angestrahlten Beine
musste ihn verwirrt haben, jedenfalls hatte er die Krise offenbar vergessen und stand einfach nur da. »Schwarz!«, brüllte Bodger ihn an,
aber der Junge hieß Warner und reagierte nicht. Rektor Bodger musste ihn
anrempeln, damit er endlich aufhörte zu starren. »Matratzen holen, Schmidt!«,
befahl ihm der Rektor.
Jenny hatte ein kleines Stückchen
Rost von der Dachrinne oder sonst etwas Umherfliegendes ins Auge gekriegt, und
sie musste die Beine noch weiter spreizen, um nicht das Gleichgewicht zu
verlieren. Als die Rinne nachgab, wurde die Taube, die Garp gefangen hatte, aus
dem abgebrochenen Ende des Trogs herauskatapultiert und zu einem kurzen,
aufgeregten Flug genötigt. Jenny stockte der Atem: Im ersten Moment dachte sie,
die verschwommen durch ihr Blickfeld segelnde Taube sei der herabstürzende
Körper ihres Sohnes. Aber noch hielt sie, beruhigte sie sich, Garps Bein fest umklammert.
Sie wurde zuerst tief in die Hocke gedrückt und
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