Garp und wie er die Welt sah
Hose, das wie eine
Cremefüllung unter seiner engen Weste hervorgequollen war. Unvermittelt
verkündete er in das Geschnatter hinein, er wolle gern einen Augenblick mit dem
kleinen Garp allein sein. Alles verstummte. Garp versuchte, sich mit Jenny
davonzustehlen, aber Jenny sagte: »Nein. Der Rektor möchte mit dir sprechen.« Dann waren sie allein. Garp wusste nicht, was ein
Rektor war.
»Deine Mutter führt da drüben ein
strenges Regiment, nicht wahr, mein Junge?«, fragte Bodger. Garp verstand
nicht, aber er nickte. »Sie macht ihre Sache sehr gut, wenn du mich fragst«,
sagte Rektor Bodger. »Sie sollte einen Sohn haben, auf den sie sich verlassen kann. Weißt du, was das heißt, sich auf jemanden verlassen, mein Junge?«
[77] »Nein«, sagte Garp.
»Es heißt: Kann sie sicher sein,
dass du auch da bist, wo du sagst, dass du bist? Kann sie sicher sein, dass du
nie etwas tust, was du nicht darfst? Das heißt, sich
auf jemanden verlassen, mein Junge«, sagte Bodger. »Glaubst du, dass deine
Mutter sich auf dich verlassen kann?«
»Ja«, sagte Garp.
»Bist du gern hier?«, fragte
Bodger ihn. Er wusste sehr gut, dass der Junge hier glücklich war; Jenny hatte
vorgeschlagen, dass Bodger an diesem Punkt ansetzen sollte.
»Ja«, sagte Garp.
»Weißt du, wie die Jungen mich
nennen?«
»›Tollwütiger Hund‹?«, fragte
Garp. Er hatte gehört, wie die Jungen auf der Station irgendjemanden »Tollwütiger Hund« genannt hatten, und Rektor Bodger sah
für Garp wie ein tollwütiger Hund aus. Aber der Rektor war überrascht; er hatte
etliche Spitznamen, doch diesen hatte er noch nie gehört.
»Ich meinte, dass die Jungen mich
Sir nennen«, sagte Bodger und war dankbar, dass Garp ein feinfühliges Kind war – Garp bemerkte den verletzten Ton in der Stimme des Rektors.
»Ja, Sir«, sagte Garp.
»Und du bist also gern hier?«, fragte der Rektor noch einmal.
»Ja, Sir«, sagte Garp.
»Nun, wenn du noch ein Mal auf die Feuerleiter gehst oder dich irgendwie in
die Nähe des Daches wagst«, sagte Bodger, » darfst du
hier nicht mehr bleiben. Hast du verstanden?«
[78] »Ja, Sir«, sagte Garp.
»Dann sei ein braver Junge, und
mach deiner Mutter Freude«, sagte Bodger, »oder du musst ganz weit weg an einen
fremden Ort ziehen.«
Garp fühlte sich plötzlich von
Dunkelheit umgeben, ähnlich dem Dunkel und dem Gefühl, weit weg zu sein, das er
gespürt hatte, als er vier Stockwerke über der Welt, wo es sicher war, in der
Regenrinne lag. Er fing an zu weinen. Aber Bodger nahm Garps Kinn zwischen
seinen dicken Daumen und seinen rektorenhaften Zeigefinger und bewegte den Kopf
des Jungen hin und her. »Du darfst deine Mutter nie enttäuschen, mein Kleiner«, sagte Bodger ihm. »Wenn du es doch tust, wirst du
dein Leben lang genauso ein schlechtes Gewissen haben wie jetzt.«
»Der arme Bodger meinte es gut«,
schrieb Garp. »Ich habe die meiste Zeit meines Lebens
ein schlechtes Gewissen gehabt, und ich habe meine
Mutter enttäuscht. Aber Bodger hat genauso wenig Sinn für das, was wirklich in der Welt geschieht, wie alle anderen.«
Garp bezog sich hier auf die
Illusion, der sich der arme Bodger in seinem späteren Leben hingab: dass er
nicht eine Taube, sondern den kleinen Garp beim Sturz vom Dach des Nebengebäudes
aufgefangen hatte. Zweifellos hatte der Augenblick, als er die Taube auffing,
für den gutherzigen Bodger in dessen fortgeschrittenen Jahren eine ebenso große
Bedeutung gewonnen, als hätte er Garp aufgefangen.
Rektor Bodgers Wirklichkeitssinn
war oft gestört. Beim Verlassen der Krankenstation stellte der Rektor fest,
dass jemand den Suchscheinwerfer von seinem Auto [79] abgeschraubt hatte. Er
stürmte durch alle Krankenzimmer – selbst durch die mit den ansteckenden
Fällen. »Sein Licht wird eines Tages auf den scheinen, der ihn genommen hat!«,
verkündete Bodger, aber niemand meldete sich. Jenny war überzeugt, dass es
Meckler gewesen war, aber sie konnte es nicht beweisen. Rektor Bodger musste
ohne seinen Scheinwerfer nach Hause fahren. Zwei Tage später hatte er sich von
irgendwem die Grippe geholt und wurde auf der Krankenstation ambulant
behandelt. Jenny war voller Mitgefühl.
Erst weitere vier Tage später
hatte Bodger einen Grund, in sein Handschuhfach zu schauen. Der niesende Rektor
fuhr gerade – mit einem neuen Suchscheinwerfer am Auto – den nächtlichen Campus
ab, als er von einem kürzlich eingestellten Wachmann angehalten wurde.
»Um Himmels willen, ich bin der
Rektor«,
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