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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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dann mit der einen Hüfte auf
den Absatz der Feuerleiter geworfen – durch das Gewicht eines ansehnlichen
Teils der Regenrinne, der immer noch Garp enthielt. Erst als ihr bewusst wurde,
dass sie beide sicher auf dem Absatz waren und saßen, ließ sie Garps Bein los.
Und erst [74]  nach einer Woche war der wohlgeformte blaue Fleck auf seiner Wade,
ein fast vollkommener Abdruck ihrer Finger, wieder verschwunden.
    Vom Boden aus war die Szene
verwirrend. Rektor Bodger sah ein plötzliches Durcheinander von Körpern über
sich, hörte das Geräusch der abreißenden Rinne, sah Schwester Fields stürzen.
Er sah ein meterlanges Stück Regenrinne in die Dunkelheit fallen, aber den
Jungen sah er nicht mehr. Er sah etwas Taubenähnliches in und durch den Strahl
seines Suchscheinwerfers sausen, aber er verfolgte die Bahn der Taube nicht –
die sich, vom Licht geblendet, im Dunkeln verirrte: Die Taube streifte die
Eisenkante der Feuerleiter und brach sich das Genick. Sie hüllte sich in ihre
Flügel und trudelte wie ein weich gewordener Fußball nach unten, ein gutes
Stück von der Matratzenreihe entfernt, die Bodger für den äußersten Notfall
hatte auslegen lassen. Erst dann erfasste Bodgers Blick die Taube wieder und
hielt das kleine, abwärtsgleitende Knäuel irrtümlich für das Kind.
    Rektor Bodger war im Grunde ein
beherzter und zuverlässiger Mann, Vater von vier streng erzogenen Kindern. Die
Hingabe, mit der er auf dem Campus Polizeiarbeit verrichtete, entsprang weniger
dem Verlangen, anderen Leuten den Spaß zu verderben, als vielmehr auf seiner
Überzeugung, dass fast jeder Unfall unnötig war und sich verhindern ließ, wenn
man sich nicht allzu blöd anstellte. So kam es, dass Bodger glaubte, er könne
das fallende Kind auffangen, denn in seinem stets besorgten Herzen war er auf
eine Situation wie diese vorbereitet und wartete praktisch nur darauf, einen
abstürzenden Jungen aus dem dunklen [75]  Himmel zu reißen. Der Rektor war so
kurzhaarig, muskulös und unproportioniert wie ein Bullterrier und hatte auch
die kleinen Augen dieser Hunderasse, die immer entzündet waren, rotgerändert
und schielend wie Schweinsaugen. Bodger war, ebenfalls wie ein Bullterrier, gut
darin, aus dem Stand heraus loszurennen, was er nun tat, die starken Arme weit
ausgestreckt, die Schweinsaugen auf die fallende Taube geheftet. »Ich hab dich,
mein Sohn!«, rief Bodger, womit er den Jungen in ihren Krankenhausnachthemden
einen Riesenschrecken einjagte. Auf so etwas waren sie nicht vorbereitet.
    Rektor Bodger hechtete nach der Taube,
die seine Brust mit einer Wucht traf, auf die selbst Bodger nicht richtig
vorbereitet war. Die Taube brachte den Rektor ins Wanken und warf ihn auf den
Rücken. Er merkte, wie es ihm die Luft aus den Lungen drückte, und lag keuchend
da. Die zerzauste Taube hielt er in beiden Armen; ihr Schnabel stach in sein
Stoppelkinn. Einer der verschreckten Jungen wandte den Suchscheinwerfer vom
vierten Stock ab und richtete den Lichtstrahl direkt auf den Rektor. Als Bodger
sah, dass er eine Taube an die Brust drückte, warf er den toten Vogel über die
Köpfe der verdutzten Jungen hinweg auf den Parkplatz.
    In der Aufnahme der
Krankenstation herrschte Hochbetrieb. Dr. Pell war eingetroffen und behandelte
Garps Bein – es war eine schartige, aber oberflächliche Wunde, die sorgfältig
ausgeschabt und gesäubert, aber nicht genäht werden musste. Schwester Creen gab
dem Jungen eine Tetanusspritze, während Dr. Pell einen winzigen rostigen
Splitter aus Jennys Auge entfernte; Jenny hatte sich unter [76]  der Last des
kleinen Garp und der Regenrinne den Rücken verrenkt, aber sonst ging es ihr
gut. Die Atmosphäre in der Aufnahme war herzlich und heiter, außer wenn es
Jenny gelang, den Blick ihres Sohnes auf sich zu lenken; für die anderen war
Garp ein noch einmal davongekommener Held, aber er musste Angst davor haben,
was Jenny in der Wohnung mit ihm anstellen würde.
    Rektor Bodger wurde einer der
wenigen an der Steering School, die Jennys Zuneigung gewannen. Er nahm sie
beiseite und sagte ihr, falls sie es für nützlich halte, sei er gern bereit,
dem Jungen die Leviten zu lesen – sofern Jenny der Meinung sei, wenn er es tue,
werde das einen nachhaltigeren Eindruck hinterlassen als alles, was sie dem
Jungen sagen könne. Jenny nahm das Angebot dankbar an. Sie einigten sich auf
eine Drohung, die den Jungen beeindrucken würde. Dann strich Bodger sich die
Federn von der Brust und steckte sein Hemd wieder in die

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