Garp und wie er die Welt sah
hatte Roberta ihm erklärt.
»Roberta, du bist ein Biest«,
hatte Garp sie angezischt.
Die Träger des riesigen,
scheußlichen Büstenhalters schnitten in sein Fleisch. Aber jedes Mal, wenn Garp
das [684] Gefühl hatte, dass ihn eine Frau musterte und womöglich an seinem
Geschlecht zweifelte, drehte er sich einfach zur Seite und setzte sich in
Positur. Und beseitigte so jeden aufkeimenden Zweifel, hoffte er.
Bei der Perücke war er sich nicht
so sicher: ein wuscheliger honigblonder Nuttenschopf, unter dem seine Kopfhaut
juckte.
Ein hübsches grünes Seidentuch
verbarg seinen Adamsapfel.
Sein braunes Gesicht war fahlgrau
gepudert, was laut Roberta seine Bartstoppeln kaschierte. Seine ziemlich
schmalen Lippen waren kirschrot geschminkt, aber er leckte sie sich dauernd,
weshalb der Lippenstift an einem Mundwinkel verschmiert war.
»Du siehst aus wie frisch
geküsst«, beruhigte Roberta ihn.
Obwohl Garp fror, hatte Roberta
ihm nicht erlaubt, seinen Skiparka anzuziehen – damit sah er zu breitschultrig
aus. Und Garps Füße steckten in martialischen Stiefeln – aus kirschrotem
Plastik, das laut Roberta hervorragend zum Lippenstift passte. Garp hatte sein
Spiegelbild in einem Schaufenster gesehen und Roberta erklärt, er sähe ja wohl
aus wie eine minderjährige Prostituierte.
»Wie eine alternde minderjährige Prostituierte«, hatte Roberta ihn korrigiert.
»Wie ein schwuler
Fallschirmspringer«, hatte Garp gesagt.
»Nein, Garp, du siehst aus wie
eine Frau«, hatte Roberta ihn beruhigt. »Nicht gerade wie eine Frau mit viel
Geschmack, aber wie eine Frau.«
[685] So saß Garp nervös im
Auditorium der Schwesternschule. Er drehte an den Flechtkordeln seiner
lächerlichen Handtasche, eines schäbigen Jutefetzens mit orientalischem Muster,
kaum groß genug für seine Brieftasche. Roberta Muldoon hatte seine anderen
Klamotten – seine andere Identität – in ihrer großen, prallgefüllten
Umhängetasche versteckt.
»Das ist Manda Horton-Jones«,
flüsterte Roberta und zeigte auf eine magere hakennasige Frau, die nasal und
mit gesenktem Spitzmauskopf eine trockene Rede vom Blatt ablas.
Garp wusste nicht, wer Manda
Horton-Jones war; er zuckte die Achseln und ertrug sie. Und weiter reichten die
Reden von schrillen politischen Aufrufen zur Einigkeit bis zu stockenden,
gequälten, persönlichen Erinnerungen an Jenny Fields. Das Publikum wusste
nicht, ob es applaudieren oder beten – ob es Zustimmung äußern oder verbissen
nicken sollte. Die Atmosphäre war erfüllt von einem Gefühl der Trauer und der untrennbaren
Zusammengehörigkeit – mit einem ausgeprägten Element der Militanz. Bei näherer
Betrachtung fand Garp es recht natürlich und passend, sowohl für seine Mutter
als auch für seine vagen Begriffe von der Frauenbewegung.
»Das ist Sally Devlin«, flüsterte
Roberta. Die Frau, die jetzt aufs Rednerpult stieg, wirkte sympathisch, klug
und irgendwie vertraut. Garp hatte sofort das Bedürfnis, sich vor ihr in Acht
zu nehmen. Ohne es so zu meinen, nur um Roberta zu ärgern, flüsterte er: »Sie
hat schöne Beine.«
»Jedenfalls schönere als du«,
sagte Roberta und kniff ihn mit ihrem starken Daumen und dem langen,
passgeübten [686] Zeigefinger – einem der Finger, die nach Garps Vermutung während
Robertas Zeit bei den Philadelphia Eagles viele Male gebrochen worden waren – so
kräftig in den Oberschenkel, dass es weh tat.
Sally Devlin blickte mit ihren
sanften traurigen Augen zu ihnen herab, als tadelte sie stumm eine Klasse von
Kindern, die nicht aufpassten – nicht einmal stillsaßen.
»Der sinnlose Mord verdient all
dies im Grunde gar nicht«, sagte sie gelassen. »Aber Jenny Fields half einfach
so vielen Einzelpersonen, sie war einfach so geduldig
und großherzig zu Frauen, die Schlimmes durchmachten. Jede, der jemals von
einer anderen geholfen wurde, sollte das, was ihr passiert ist, zutiefst
verdammen.«
Garp hatte in diesem Augenblick
wirklich ein verdammt ungutes Gefühl; er hörte ein vereintes Seufzen und
Schluchzen von Hunderten von Frauen. Neben ihm zuckte Robertas breite Schulter
gegen seine. Er fühlte, wie eine Hand, vielleicht die von der Frau unmittelbar
hinter ihm, nach seiner Schulter griff und sich in den schrecklichen
türkisgrünen Damenoverall krampfte. Er fragte sich, ob man ihn gleich für
seinen beleidigenden, unpassenden Aufzug schlagen würde, aber die Hand hielt sich
nur an seiner Schulter fest. Vielleicht brauchte die Frau einen Halt. In diesem
Augenblick,
Weitere Kostenlose Bücher