Garp und wie er die Welt sah
das wusste Garp, fühlten sie sich alle als Schwestern, nicht wahr?
Er blickte auf, um zu sehen, was
Sally Devlin sagte; aber auch in seinen Augen standen Tränen, und er konnte
Mrs. Devlin nicht klar sehen. Hören konnte er sie
allerdings : Sie weinte. Heftige, bebende, tiefe
Schluchzer! Sie versuchte, in ihrer Rede fortzufahren, aber ihre Augen [687] fanden
nicht die richtige Stelle auf der Seite; die Seite knatterte gegen das
Mikrophon. Eine sehr kräftig wirkende Frau, die Garp bekannt vorkam – eine von
jenen Gorillagestalten, die er oft bei seiner Mutter gesehen hatte –,
versuchte, Sally Devlin vom Rednerpult herunterzukomplimentieren, aber Mrs.
Devlin wollte nicht abtreten.
»Das wollte ich nicht«, sagte
sie, immer noch weinend – sie meinte ihr Schluchzen, den Verlust ihrer
Selbstbeherrschung. »Ich hatte noch mehr zu sagen«, protestierte sie, bekam
aber ihre Stimme nicht unter Kontrolle. »Verdammter Mist«, schloss sie mit
einer Würde, die Garp tief bewegte.
Die große, robust wirkende Frau
stand plötzlich allein am Mikrophon. Das Publikum wartete stumm. Garp fühlte
ein Beben, vielleicht auch ein Zupfen, von der Hand auf seiner Schulter. Er
blickte auf Robertas große Hände, die gefaltet in ihrem Schoß lagen, und
wusste, dass die Hand auf seiner Schulter sehr klein sein musste. Die große,
robust wirkende Frau wollte etwas sagen, und das Publikum wartete. Aber es
konnte lange warten, wenn es ein Wort von ihr hören wollte. Roberta kannte sie.
Roberta stand neben Garp auf und begann, das Schweigen der großen, robust
wirkenden Frau zu beklatschen – ihre entnervende Stille am Mikrophon. Andere
Leute fielen in Robertas Beifall ein – sogar Garp, obwohl er keine Ahnung
hatte, warum er klatschte.
»Sie ist eine
Ellen-Jamesianerin«, flüsterte Roberta ihm zu. »Sie kann nichts sagen.« Dennoch rührte die Frau das Publikum mit ihrem gequälten,
kummervollen Gesicht. Sie öffnete den Mund, als sänge sie, aber kein Ton kam
heraus. [688] Garp meinte, den Stumpf ihrer abgetrennten Zunge sehen zu können. Er
erinnerte sich daran, wie seine Mutter sie unterstützt hatte – diese
Verrückten; Jenny war wunderbar zu jeder von ihnen, die zu ihr kam. Aber Jenny
hatte zuletzt – vielleicht nur Garp gegenüber – zugegeben, dass sie deren
Prinzipien nicht billigte. »Sie machen sich zu Opfern«, hatte Jenny gesagt,
»und das ist genau das, was ihren Vorwürfen nach die Männer ihnen antun. Warum
legen sie nicht einfach ein Schweigegelübde ab oder sprechen nie in Gegenwart
eines Mannes?«, waren ihre Worte. »Es ist nicht logisch: sich für ein Anliegen
selbst zu verstümmeln.«
Aber Garp, den die verrückte Frau
vor ihm jetzt rührte, spürte auf einmal die ganze Weltgeschichte der
Selbstverstümmelung – trotz ihrer Brutalität und Unlogik drückte sie,
vielleicht besser als alles andere, eine schreckliche Verletztheit aus. »Man
hat mir wirklich weh getan«, sagte das riesige
Gesicht der Frau, das vor seinen tränenfeuchten Augen verschwamm.
Dann tat die kleine Hand auf
seiner Schulter ihm weh; er dachte wieder an seine
eigene Lage – ein Mann bei einem Frauenritual – und wandte den Kopf, um die
abgespannt aussehende Frau hinter ihm zu betrachten. Ihr Gesicht wirkte
vertraut, aber er erkannte sie nicht wieder.
»Dich kenn ich«, flüsterte die
junge Frau ihm zu. Es klang nicht so, als freute sie
sich über ihre Bekanntschaft.
Roberta hatte ihn gewarnt, er
solle auf keinen Fall den Mund aufmachen, nicht einmal versuchen zu reden. Auf das Problem war er vorbereitet. Er schüttelte
den Kopf, zog einen von seiner gewaltigen falschen Brust eingedellten
Notizblock aus der Druckknopftasche und holte einen [689] Bleistift aus seiner
absurden Handtasche. Die spitzen, klauenartigen Finger der Frau gruben sich in
seine Schulter, als wollten sie ihn am Davonlaufen hindern.
Hallo!
Ich bin eine Ellen-Jamesianerin,
kritzelte Garp auf den Block,
riss den Zettel ab und gab ihn der jungen Frau; sie nahm ihn nicht.
»Einen Scheiß bist du«, sagte
sie. »Du bist T.S. Garp.«
Das Wort Garp hallte wie der Rülpser eines fremdartigen Tieres durch die Stille des geduldig
ausharrenden Publikums, das immer noch von der stummen Ellen-Jamesianerin auf
dem Podium dirigiert wurde. Roberta Muldoon drehte sich in panischem Entsetzen
um; diese junge Frau hatte sie noch nie gesehen.
»Ich weiß nicht, wer deine große
Spielgefährtin ist«, erklärte die junge Frau Garp, »aber du bist T.S. Garp. Ich
weiß
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