Garp und wie er die Welt sah
Garp
sie.
»Nein!«, entfuhr es John Wolf.
Garp sah ihn wütend an.
»Sehr angenehm«, sagte Jillsy zu
Garp; sie wollte ihn nicht ansehen.
»Ganz meinerseits«, sagte Garp.
Er sah auf einen Blick, dass diese vom Schicksal gezeichnete Frau sein Buch im
Gegensatz zu John Wolfs Behauptung nicht »phantastisch« fand.
»Das mit Ihrer Mutter tut mir
sehr leid«, sagte Jillsy.
»Vielen Dank«, sagte Garp, aber
er konnte sehen – sie konnten es alle sehen! –, dass
Jillsy Sloper innerlich kochte.
»Sie war mehr wert als zwei oder
drei von Ihrer Sorte!«, schrie sie ihn plötzlich an.
In ihren schlammig beigen Augen standen die Tränen. »Sie war mehr wert als vier
oder fünf von Ihren grässlichen Büchern!«, krähte sie. »Gott«, stöhnte sie und
kehrte ihnen in John Wolfs Arbeitszimmer den Rücken. »Gott, Gott!«
Noch jemand, der humpelt, dachte
Duncan Garp, sah aber gleich, dass sein Vater nichts von seiner Opferstatistik
wissen wollte.
Bei der ersten feministischen
Beerdigung in New York City schienen die Trauergäste nicht recht zu wissen, wie
sie sich verhalten sollten. Das lag vielleicht daran, dass die Zusammenkunft
nicht in einer Kirche, sondern in einem der geheimnisvollen Gebäude des
städtischen Universitätssystems stattfand – einem Hörsaal, alt vom Echo der
Reden, denen niemand zugehört hatte. Der riesige Raum wirkte irgendwie entweiht
vom verklungenen Beifall – für [682] Rockbands und den einen oder anderen
berühmten Dichter. Aber zugleich wirkte er ernst und würdevoll, da er an die
großen Vorlesungen gemahnte, die gehalten worden waren; es war ein Saal, in dem
sich Hunderte von Menschen Notizen gemacht hatten.
Der Raum hieß Auditorium der
Schwesternschule – er schien also genau der richtige Ort für einen Tribut an
Jenny Fields zu sein. Es war schwer zu sagen, was die Trauergäste in ihren Jenny Fields Originals mit dem kleinen roten Herzen auf
der Brust von den richtigen Krankenschwestern unterschied, die, auf ewig weiß
und altmodisch, andere Gründe hatten, sich in der Nähe der Schwesternschule
aufzuhalten, aber trotzdem einen Blick auf die Feier werfen wollten – aus
Neugier oder echter Anteilnahme oder beidem.
Unter den zahllos
umeinanderwimmelnden, leise murmelnden Menschen waren viele in weißer
Schwesterntracht, und Garp verwünschte Roberta. »Ichhab
dir doch gesagt , ich könnte mich als Krankenschwester
verkleiden«, zischelte Garp. »Dann wäre ich nicht ganz so sehr aufgefallen.«
»Ich hab gedacht, du würdest als
Krankenschwester auffallen«, sagte Roberta. »Ich wusste nicht, dass so viele da
sein würden.«
»Es wird bald die große Scheißmode sein«, brummte Garp. »Wart’s nur ab«, sagte er,
aber dann sagte er nichts mehr; aufgetakelt, wie er war, machte er sich neben
Roberta klein und hatte das Gefühl, alle starrten ihn an und spürten irgendwie
seine Männlichkeit – oder zumindest, wie Roberta ihn gewarnt hatte, seine
Feindseligkeit.
Sie saßen an der exponiertesten
Stelle des riesigen Hörsaals, nur drei Reihen von Podium und Rednerpult [683] entfernt;
ein Meer von Frauen war hereingebrandet und hatte sich hinter sie gesetzt – in
vielen, vielen Reihen –, und ganz hinten, an der weit geöffneten Rückseite der
Halle (wo es keine Sitze gab), zogen die Frauen, die weniger Interesse daran
hatten, die gesamte Trauerfeier auszusitzen, sondern nur gekommen waren, um ihr
Beileid zu bezeugen, langsam zu einer der Türen herein und zur anderen hinaus.
Der größere, sitzende Teil des Publikums war gleichsam der offene Sarg von
Jenny Fields, den die langsam vorbeidefilierenden Frauen betrachten wollten.
Garp hatte natürlich das Gefühl,
dass er ein offener Sarg sei und dass all die Frauen
ihn betrachteten – seine Blässe, seine Buntheit, seine absurde Verkleidung.
Das hatte er Roberta zu
verdanken, die sich vielleicht dafür revanchieren wollte, dass er sie so lange
getriezt hatte, bis sie ihn mitnahm – oder für seine gemeine Stichelei wegen
ihrer Chromosomen. Sie hatte Garp in einen billigen türkisgrünen Damenoverall
gesteckt, genauso türkisgrün wie Oren Raths Lieferwagen. Der Damenoverall hatte
einen goldenen Reißverschluss, der von Garps Schritt bis zu Garps Kehle lief.
Garp füllte die Hüften des Overalls nicht ganz aus, aber seine Brüste – oder
vielmehr die Attrappen, die Roberta ihm gebastelt hatte – spannten die
Druckknopftaschen und zogen den empfindlichen Reißverschluss schief.
»Ein tolles Fahrgestell hast
du!«,
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