Garp und wie er die Welt sah
Ellen-Jamesianerinnen das allgemeine Grauen, das Frauen und
Mädchen so brutal bedrohte, publik machen wollen. Für
viele Ellen-Jamesianerinnen war die Imitation des schrecklichen
Zungenabschneidens nicht »ausschließlich politisch« gewesen, sondern etwas,
womit sie sich höchstpersönlich identifizierten. In einigen Fällen waren die
Ellen-Jamesianerinnen natürlich Frauen, die ebenfalls vergewaltigt worden
waren; sie wollten damit ausdrücken, dass sie das Gefühl hatten, keine Zunge mehr zu haben. In einer Welt der Männer hatten sie das
Gefühl, für immer mundtot gemacht worden zu sein.
Dass die Gruppierung voller
Verrückter war, hätte niemand geleugnet, selbst einige Ellen-Jamesianerinnen
nicht. [744] Man konnte generell sagen, dass sie eine aufrührerische politische
Splittergruppe feministischer Extremistinnen waren, die die große Seriosität
anderer Frauen und anderer Feministinnen ihrer Umgebung oft schmälerten. Aber
Ellen James’ Attacke auf sie übersah die vereinzelten Individuen unter den
Ellen-Jamesianerinnen ebenso, wie die Handlungsweise der Gruppe Ellen James
missachtet hatte – ohne jede Rücksicht darauf, dass ein elfjähriges Mädchen es
vorgezogen hätte, ihr Trauma nicht in der Öffentlichkeit zu verarbeiten.
Jedermann in Amerika wusste, dass
Ellen James ihre Zunge verloren hatte, mit Ausnahme der jungen Generation, die
jetzt groß wurde und Ellen oft mit den Ellen-Jamesianerinnen verwechselte; eine
äußerst schmerzhafte Verwechslung für Ellen, weil man ihr damit unterstellte,
sie hätte es sich selbst angetan.
»Diese Wut war sehr wichtig für
sie«, sagte Helen zu Garp über Ellens Essay. »Ich bin sicher, sie musste es
schreiben, und es hat ihr unendlich gutgetan, all das zu sagen. Das habe ich
ihr auch gesagt.«
» Ich habe ihr gesagt, sie soll ihn veröffentlichen«, sagte Garp.
»Nein«, sagte Helen. »Das finde
ich nicht. Wozu soll das gut sein?«
»Gut sein?«, fragte Garp zurück.
»Nun, es ist die Wahrheit. Und es wird Ellen guttun.«
»Und dir ?«,
fragte Helen, denn sie wusste, dass er den Ellen-Jamesianerinnen so etwas wie
eine öffentliche Demütigung wünschte.
»Okay«, sagte er, »okay, okay.
Aber sie hat recht, [745] verdammt noch mal. Diese Irren
sollten es aus erster Hand hören.«
»Aber warum?«, sagte Helen. »Für
wen soll das gut sein?«
»Gut sein, gut sein«, knurrte
Garp, obgleich er in seinem tiefsten Innern gewusst haben musste, dass Helen
recht hatte. Er erklärte Ellen, sie solle ihren Essay zu den Akten legen. Eine
Woche lang wollte sich Ellen weder mit Garp noch mit Helen verständigen.
Erst als John Wolf Garp anrief,
begriffen Garp und Helen, dass Ellen den Essay an John Wolf geschickt hatte.
»Was soll ich damit machen?«,
fragte er.
»Gott, schicken Sie ihn zurück«,
sagte Helen.
»Nein, verdammt«, sagte Garp.
»Fragen Sie Ellen, was Sie damit machen sollen.«
»Der alte Pontius Pilatus, der
sich die Hände in Unschuld wäscht«, sagte Helen zu Garp.
»Was wollen Sie damit machen?«,
fragte Garp John Wolf.
»Ich?«, sagte
John Wolf. »Es bedeutet mir nichts. Aber ich bin sicher, dass man es
veröffentlichen könnte. Ich meine, es ist sehr gut geschrieben.«
»Das ist nicht der Grund, weshalb
man es veröffentlichen könnte«, sagte Garp, »und Sie wissen es genau.«
»Nein. Aber es ist erfreulich, dass es gut formuliert ist.«
Ellen erklärte John Wolf, sie
möchte, dass es veröffentlicht werde. Helen versuchte, sie davon abzubringen.
Garp wollte sich aus allem raushalten.
»Du bist schon drin«, erklärte Helen ihm, »und indem du nichts sagst, weißt du, dass du
deinen Willen durchsetzt: dass dieser bitterböse Angriff veröffentlicht wird.
Genau das willst du.«
[746] Also sprach Garp mit Ellen
James. Er versuchte, sie mit seinen Argumenten zu überzeugen – warum sie all
das nicht öffentlich sagen solle. Diese Frauen seien krank, traurig,
durcheinander, gepeinigt, von anderen missbraucht, und jetzt missbrauchten sie
sich auch noch selbst – aber was für einen Zweck habe es, sie zu kritisieren?
Jedermann werde sie in fünf Jahren vergessen haben. Dann würden sie ihre
Botschaften verteilen, und die Leute würden sagen: »Was ist das, eine
Ellen-Jamesianerin? Sie meinen, Sie können nicht reden? Sie haben keine Zunge?«
Ellen machte ein trotziges und
entschlossenes Gesicht.
Ich werde
sie nicht vergessen!,
schrieb sie Garp.
Ich werde
sie nie vergessen, weder in fünf Jahren noch in zehn; ich werde mich
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