Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
monströses
Selbstmitleid. Kenny Truckenmiller war nur eine besondere Spezies von Idiot:
ein wahrer Gläubiger, der gleichzeitig ein Schläger war. Er war ein Mann, der
sich so blind bemitleidete, dass er jeden als Todfeind ansah, der nicht seine,
Kennys, Ideen vertrat.
    Und inwiefern war eine
Ellen-Jamesianerin anders? War ihre Geste nicht ebenso verzweifelt, nicht
ebenso bar jeden Verständnisses für die Vielschichtigkeit des Menschen?
    [741]  » Hören Sie«, sagte John Wolf. »Die haben nie jemanden umgebracht. «
    »Noch nicht«, sagte Garp. »Sie
erfüllen aber alle Voraussetzungen. Sie sind imstande, sinnlose Entscheidungen
zu treffen, und sie sind so felsenfest davon überzeugt, im Recht zu sein.«
    »Das reicht noch lange nicht, um
jemanden zu töten«, sagte Roberta. Sie brachten Garp auf die Palme. Was blieb
ihnen anderes übrig? Es gehörte nicht zu Garps Stärken, Toleranz gegenüber
Intoleranten zu üben. Wahnsinnige Leute machten ihn wahnsinnig. Es war, als
nehme er ihnen persönlich übel, dass sie dem Wahnsinn nachgaben – teilweise
weil er sich selbst so oft bemühte, vernünftig zu reagieren. Wenn manche Leute
sich nicht mehr um Vernunft bemühten oder dabei versagten, hatte Garp den
Verdacht, sie strengten sich nicht genug an.
    »Toleranz gegenüber den
Intoleranten ist schwer, aber ein Gebot der Stunde«, sagte Helen. Obwohl Garp
wusste, dass Helen intelligent war und oft weitsichtiger als er, war er auf dem
Auge, mit dem er die Ellen-Jamesianerinnen sehen sollte, ziemlich blind.
    Sie waren natürlich auch ziemlich
blind, was ihn betraf.
    Die radikalste Kritik an Garp –
über seine Beziehung zu seiner Mutter und über seine
Bücher – war von verschiedenen Ellen-Jamesianerinnen gekommen. Von ihnen
verfolgt, verfolgte er sie ebenfalls. Es war schwer zu sehen, warum es
überhaupt hatte anfangen müssen oder ob es hätte
anfangen müssen, aber Garp war größtenteils deshalb eine Streitfrage unter
Feministinnen geworden, weil Ellen-Jamesianerinnen ihn gereizt hatten – und
weil Garp sie gereizt hatte. [742]  Aus genau denselben Gründen war Garp bei zahlreichen Feministinnen beliebt und bei ebenso vielen
anderen unbeliebt.
    Was die Ellen-Jamesianerinnen
betraf, so waren sie in ihrer Ablehnung Garps nicht subtiler als in ihrer
Gestik: für die abgeschnittene Zunge von Ellen James ließen sie sich die eigene
Zunge abschneiden.
    Absurderweise sollte ausgerechnet
Ellen James diesen zählebigen Kalten Krieg eskalieren lassen.
    Sie hatte sich angewöhnt, Garp
immer alles zu zeigen, was sie geschrieben hatte – ihre vielen Geschichten,
ihre Erinnerungen an ihre Eltern, an Illinois; ihre Gedichte; ihre
schmerzvollen Gleichnisse für Sprachlosigkeit; ihre Würdigungen der schönen
Künste und des Schwimmens. Sie schrieb klug, makellos, technisch einwandfrei
und mit unermüdlicher Energie.
    »Sie hat das, worauf es ankommt«,
sagte Garp immer wieder zu Helen. »Sie hat das Talent, aber sie hat auch die
Leidenschaft. Und ich glaube, dass sie die Ausdauer haben wird.«
    Besagte »Ausdauer« war ein Wort,
das Helen überging, weil sie für Garp fürchtete, er habe die Seine verloren. An
Talent und Leidenschaft fehlte es ihm gewiss nicht; aber sie fand, er sei vom
Weg abgekommen – fehlgeleitet worden –, und nur Ausdauer könne ihn wieder zu
seinen eigentlichen Zielen zurückführen.
    Es bekümmerte sie. Vorerst sagte
sich Helen immer wieder, dass sie sich mit allem zufriedengeben wollte, was
Garps Leidenschaft weckte – das Ringen, sogar die Ellen-Jamesianerinnen. Weil,
so glaubte sie, Reibung Wärme [743]  erzeugt – und früher oder später, nahm sie an,
würde er wieder schreiben.
    Deshalb widersprach Helen nicht
allzu heftig, als Garp wegen des Aufsatzes aus dem Häuschen geriet, den Ellen
James ihm zeigte. Der Essay hieß Warum ich keine Ellen-Jamesianerin
bin, von Ellen James. Er war kraftvoll und bewegend, und er rührte Garp
zu Tränen. Er berichtete von ihrer Vergewaltigung, den Schwierigkeiten, die sie
damit hatte, den Schwierigkeiten, die ihre Eltern damit hatten; er ließ die
Praktiken der Ellen-Jamesianerinnen wie eine seichte, durch und durch
politische Imitation eines sehr persönlichen Traumas erscheinen. Ellen James
sagte, dass die Ellen-Jamesianerinnen ihre Pein nur verlängert hätten; sie
hätten sie zu einem sehr öffentlichen Opfer gemacht. Natürlich war Garp dafür
anfällig, sich von öffentlichen Opfern rühren zu lassen.
    Und um gerecht zu sein, hatten
die besseren

Weitere Kostenlose Bücher