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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Das
überlegene Schweigen der großen Frau machte ihn wütend; Duncan wollte mit ihr
sprechen, aber die Frau fixierte das Kind nur mit einem Schweigen gebietenden
Blick. Jenny teilte Garp leise mit, die Frau rede nicht, weil sie keine Zunge
habe. Buchstäblich.
    »Sie ist abgeschnitten worden«,
sagte Jenny.
    »Mein Gott!«, flüsterte Garp.
»Wie ist das passiert?«
    Jenny verdrehte die Augen – eine
Angewohnheit, die sie von ihrem Sohn übernommen hatte. »Liest du denn keine
Zeitung?«, fragte Jenny ihn. »Informierst du dich denn nicht darüber, was
eigentlich los ist in der Welt?« Was »los« war, fand Garp, war nie so wichtig
wie das, was er erfand – woran er schrieb. Was ihn an seiner Mutter
hauptsächlich ärgerte (seit die Feministinnen sie vereinnahmt hatten), war die
Tatsache, dass sie ständig über die neuesten Ereignisse diskutierte.
    »Du meinst, es war ein Ereignis ?«, fragte Garp. »Ist es ein so berühmtes
Zungenunglück, dass ich davon gehört haben müsste?«
    »O Gott«, sagte Jenny müde. »Kein
berühmtes Unglück. Nur ein sehr vorsätzliches.«
    »Mit anderen Worten, ihr hat
jemand vorsätzlich die Zunge abgeschnitten?«
    »Genau«, sagte Jenny.
    »Mein Gott«, sagte Garp.
    »Hast du etwa noch nie von Ellen
James gehört?«
    [268]  »Nein«, gestand Garp.
    »Also, es gibt inzwischen eine
ganze Frauenorganisation«, informierte ihn Jenny, »aufgrund dessen, was Ellen
James zugestoßen ist.«
    »Was ist ihr denn zugestoßen?«,
fragte Garp.
    »Zwei Männer haben sie
vergewaltigt, als sie elf war«, sagte Jenny. »Und dann haben sie ihr die Zunge
abgeschnitten, damit sie niemandem erzählen konnte, wer ihre Vergewaltiger
waren und wie sie aussahen. Die beiden Männer waren unglaublich dumm, denn sie
kamen nicht auf die Idee, dass eine Elfjährige schreiben kann. Ellen James schrieb eine sehr genaue Beschreibung der Männer, und sie
wurden gefasst und vor Gericht gestellt und verurteilt. Im Zuchthaus wurden sie
dann von irgendjemandem ermordet.«
    »Wow«, sagte Garp. » Das ist also Ellen James?«, flüsterte er und deutete
respektvoll auf die große schweigsame Frau.
    Jenny verdrehte wieder die Augen.
»Nein«, sagte sie. »Das ist jemand von der Ellen-James -Gesellschaft. Ellen James ist noch ein Kind, ein kleines blondes Mädchen.«
    »Du meinst, die Frauen von dieser
Ellen-James-Gesellschaft laufen stumm durch die Gegend?«, fragte Garp. »Als ob sie selbst auch keine Zunge mehr hätten?«
    »Nein, ich meine, sie haben keine Zunge mehr«, sagte Jenny. »Die Frauen von der
Ellen-James-Gesellschaft lassen sich aus Protest gegen das, was Ellen James
zugestoßen ist, die Zunge abschneiden.«
    »O Mann«, sagte Garp und sah die
große Frau mit neu erwachtem Missfallen an.
    [269]  »Ich möchte nichts mehr von diesem
Quatsch hören, Mom«, sagte Garp.
    »Diese Frau ist jedenfalls eine
Ellen-Jamesianerin – wo du schon mal gefragt hast«, sagte Jenny.
    »Wie alt ist Ellen James jetzt?«,
fragte Garp.
    »Zwölf«, sagte Jenny. »Es ist
erst ein Jahr her.«
    »Und diese Ellen-Jamesianerinnen?«,
fragte Garp. »Ist das ein Verein, der Tagungen veranstaltet und eine
Vorsitzende und eine Schatzmeisterin wählt und all das?«
    »Warum fragst du sie nicht
selbst?«, fragte Jenny und zeigte auf die stumme Riesin neben der Tür. »Eben
hast du noch gesagt, du willst nichts mehr davon hören.«
    »Wie kann ich sie fragen, wenn
sie keine Zunge hat, um mir zu antworten?«, zischte Garp.
    »Sie schreibt «,
sagte Jenny. »Alle Ellen-Jamesianerinnen tragen einen kleinen Notizblock mit
sich herum, in dem sie aufschreiben, was sie sagen wollen. Du weißt doch, was
Schreiben ist, oder?«
    Zum Glück kam in diesem Moment
Helen nach Hause.
    Garp sollte noch mehr
Ellen-Jamesianerinnen begegnen. Obwohl es ihn sehr mitnahm, was Ellen James
zugestoßen war, empfand er nur Abscheu vor ihren erwachsenen schalen
Nachahmerinnen, die ihm andauernd irgendwelche Notizzettel unter die Nase
hielten. Da stand zum Beispiel:
    Hallo,
ich heiße Martha. Ich bin eine Ellen-Jamesianerin. Wissen Sie, was eine
Ellen-Jamesianerin ist?
    Und als er es zuerst nicht
wusste, bekam er einen zweiten Zettel.
    [270]  Die Ellen-Jamesianerinnen
verkörperten für Garp jene Frauen, die seine Mutter zur Heldin stilisierten und
sie gleichzeitig für ihre eigenen unausgegorenen Anliegen einzuspannen
versuchten.
    »Ich will dir mal sagen, was ich
von diesen Frauen halte, Mom«, sagte er einmal zu Jenny. »Wahrscheinlich können
sie sich alle nicht

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