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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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vernünftig ausdrücken, wahrscheinlich hatten sie ein Leben
lang nichts Vernünftiges zu sagen – so dass ihre Zunge kein allzu großes Opfer
war. Wahrscheinlich erspart es ihnen viele Peinlichkeiten. Falls du verstehst,
was ich meine.«
    »Du hast nicht gerade viel
Mitgefühl«, sagte Jenny zu ihm.
    »Für Ellen James schon«, sagte
Garp.
    »Diese Frauen müssen auf ihre
Weise auch gelitten haben«, sagte Jenny. »Deshalb wollen sie sich zusammentun.«
    »Und sich noch mehr geißeln,
Mom?«
    »Vergewaltigung ist das Problem
aller Frauen«, sagte Jenny. Garp konnte Jennys Verallgemeinerungen nicht
ausstehen. Seiner Meinung nach führte sie damit die Demokratie ad absurdum.
    »Sie ist auch das Problem aller
Männer, Mom. Mal angenommen, ich schneide mir, wenn wieder eine Vergewaltigung
stattfindet, den Schwanz ab und trage ihn um den Hals. Würdest du das auch respektieren?«
    »Wir sprechen von aufrichtigen Gesten«, sagte Jenny.
    »Wir sprechen von albernen Gesten«, sagte Garp.
    Aber er würde sich immer an seine
erste Ellen-Jamesianerin erinnern – die große Frau, die mit seiner Mutter in
seine Wohnung gekommen war. Bevor sie ging, schrieb sie [271]  eine Mitteilung für
Garp auf und schob ihm den Zettel wie ein Trinkgeld in die Hand.
    »Mom hat eine neue
Leibwächterin«, flüsterte er Helen zu, als sie zum Abschied winkten. Dann las
er die Mitteilung der Leibwächterin.
    Ihre
Mutter ist mehr wert als 2 von Ihrer Sorte,
    stand auf dem Zettel.
    Aber im Grunde konnte er sich
über seine Mutter nicht beklagen; denn in den ersten fünf Jahren, die Garp und
Helen verheiratet waren, bezahlte Jenny ihre Rechnungen.
    Garp scherzte, er habe seinen
ersten Roman mit Zaudern betitelt, weil er so lange
gebraucht habe, um ihn zu schreiben; dabei hatte er stetig und sorgfältig daran
gearbeitet; Garp war selten ein Zauderer.
    Zaudern war ein sogenannter historischer Roman. Schauplatz ist Wien zwischen 1938 und
1945 und unter der russischen Besatzung. Die Hauptfigur ist ein junger
Anarchist, der nach dem »Anschluss« untertauchen muss und darauf wartet, den
Nazis einen richtigen Schlag verpassen zu können. Er wartet zu lange. Der
springende Punkt ist, dass er besser vor der Machtübernahme der Nazis
zugeschlagen hätte; aber damals hatte er keine Anhaltspunkte, an denen er sich
orientieren konnte, und war zu jung, um zu erkennen, was geschah. Außerdem hat
er eine verwitwete Mutter, der es völlig egal ist, was außerhalb ihrer Wohnung
geschieht, in der sie das Geld ihres verstorbenen Mannes hortet.
    [272]  In den Kriegsjahren arbeitet
der junge Anarchist als Tierwärter in Schönbrunn. Als die Wiener Bevölkerung
ernstlich zu hungern beginnt und mitternächtliche Überfälle auf den Zoo eine
übliche Methode der Nahrungsbeschaffung werden, beschließt der junge Anarchist,
die verbliebenen Tiere zu befreien – die selbstverständlich unschuldig sind am
Zaudern seines Landes und der Gefügigkeit, mit der es die Naziherrschaft
erträgt. Aber inzwischen sind auch die Tiere selbst am Verhungern, und als der
Anarchist sie befreit, fressen sie ihn auf. »Das war nur natürlich«, schrieb
Garp. Die Tiere wiederum werden von dem hungernden Mob abgeschlachtet, der Wien
auf der Suche nach Nahrung durchstreift – unmittelbar vor dem Einmarsch der
sowjetischen Truppen. Auch das war »nur natürlich«.
    Die Mutter des Anarchisten
überlebt den Krieg und wohnt im sowjetischen Sektor (Garp gab ihr die Wohnung,
die er und seine Mutter in der Schwindgasse geteilt hatten); die Duldsamkeit
der knausrigen Witwe wird schließlich durch die wiederholten Abscheulichkeiten
erschöpft, die sie jetzt die Sowjets begehen sieht – vor allem
Vergewaltigungen. Sie beobachtet, wie die Stadt wieder in Passivität und
Selbstzufriedenheit verfällt, und sie erinnert sich reuevoll an ihre eigene
Passivität bei der Machtübernahme der Nazis. Schließlich ziehen die Russen ab;
es ist 1956, und Wien igelt sich wieder ein. Aber die Frau trauert um ihren
Sohn und ihr geschundenes Land; jedes Wochenende spaziert sie durch den
teilweise wiederaufgebauten und wieder recht repräsentativen Zoo und denkt an
die heimlichen Besuche, die sie ihrem Sohn dort im Krieg abgestattet hat. [273]  Der
Aufstand im benachbarten Ungarn, in dessen Folge Hunderttausende neuer
Flüchtlinge nach Wien strömen, treibt die alte Dame schließlich zu einer ersten
und letzten Tat. Um die selbstgefällige Stadt wachzurütteln – damit sie sich
nicht abermals zurücklehnt und

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