Garten des Lebens
hatten sich von dem Tod ihres Sohnes nicht mehr erholt.
Es kam Susannah so vor, als sei die ganze Freude, die ihre Eltern empfinden konnten, nach Dougs Unfall einfach verschwunden. Das Glück war fort, und zurück blieben ihre Eltern in einer Ehe, die von Ödnis und Leere geprägt war. So empfand es jedenfalls Susannah, auch wenn ihre Mutter eine andere Sichtweise vertrat – doch Susannah glaubte, dass dabei Verdrängung eine große Rolle spielte. Denn wie sonst hätte Vivian, wenn sie ehrlich mit ihrer Unzufriedenheit und ihrem Unglück – und mit dem Anteil, den George daran hatte – umgegangen wäre, bei ihrem Ehemann bleiben können?
Als Susannah nach einem Jahr aus Frankreich zurückgekommen war, hatte sie es kaum ertragen können, im selben Haus wie ihr Vater zu leben. Sie war froh, als das College anfing und sie ausziehen konnte, und hatte nie mehr darüber nachgedacht, zurückzukehren.
Aber Dougs Tod war nicht die einzige Erinnerung, die Susannah mit sich herumtrug. Sie konnte nicht nach Colville kommen, ohne auch an Jake zu denken – besonders jetzt, da er beinahe jede Nacht in ihren Träumen erschien. In den vergangenen Jahren hatte sie immer wieder ab und zu an ihn denken müssen, aber nie so intensiv wie in den letzten Monaten. Jake war ihre erste große Liebe. Und ihr Vater hatte sie zerstört.
Susannah hoffte, dass Jake ein glückliches und erfolgreiches Leben führte. Vielleicht war er verheiratet, hatte Kinder. Es hatte sie viel Zeit und Kraft gekostet, über ihn hinwegzukommen – doch es war ihr gelungen. Dachte sie jedenfalls.
Susannah schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu verscheuchen und trat auf die Bremse, um das vorgeschriebene Fünfunddreißig-Meilen-Limit nicht zu überschreiten. Sie fuhr an Bennys Motel vorbei und an dem
Safeway
, dem Lebensmittelgeschäft, in dem ihre Mutter seit fünfzig Jahren einkaufte. Der Stadtpark lag hinter dem Motel. Etwas weiter die Straße entlang befand sich das
Ole King Cole's
Restaurant. An jedem Muttertag hatte ihr Vater ihre Mutter zum Essen ausgeführt. Entweder in dieses Restaurant oder in das
Acorn's.
Um nicht von den Erinnerungen an die Vergangenheit überwältigt zu werden, zwang Susannah sich, geradeaus zu blicken. Als sie das Ende der Hauptstraße erreicht hatte, fuhr sie den Hügel hinauf zur Chestnut Avenue. Dort stand das Haus ihrer Kindheit.
Das Licht brannte, obwohl es nicht einmal fünf Uhr und noch hell war. Susannah fuhr die Auffahrt hinauf und stellte den Motor ab. Sofort wurde die Haustür geöffnet, als hätte ihre Mutter hinter dem Fenster gestanden und auf ihre Ankunft gewartet.
Das Haus war aus Stein gebaut. Damals, in den Sechzigerjahren, hatte es zu den modernsten Gebäuden der Stadt gezählt. Es war eines dieser aufwendigen Häuser im Ranch-Stil mit vier Schlafzimmern, von denen ihre Mutter eines als Handarbeitsraum benutzte, einem ausgebauten Kellergeschoss und einer großen Waschküche.
Und natürlich gab es einen Garten, einen wundervollen Garten, in dem ihre Mutter so gerne am Abend saß, um zu lesen oder zu stricken. George hatte aus diesem Grund auf der hinteren Terrasse extra eine Lampe installiert.
“Susannah!” Vivian breitete die Arme aus, als ihre Tochter aus dem Wagen stieg.
Während Susannah die Stufen hinaufging, bemerkte sie erschrocken, wie zerbrechlich ihre Mutter wirkte. Bei ihrem letzten Besuch im März hatte sie noch nicht so hinfällig ausgesehen. Sie schien um Jahre gealtert zu sein. Mrs. Henderson hatte recht – Vivian hatte an Gewicht verloren, die Kleidung war viel zu groß geworden. Ihre Kittelschürze hing wie ein Sack um sie herum, und die Strumpfhosen schlugen an den Beinen Falten. Susannah schlang die Arme um ihre Mutter und fühlte sich mit einem Mal schuldig. Sie hätte viel früher herkommen sollen, hätte viel früher erkennen müssen, wie schlecht es ihrer Mutter ging.
“Ich bin so froh, dass du da bist”, sagte Vivian.
“Ich bin auch froh, hier zu sein”, erwiderte Susannah. Joe würde ganz gut ein paar Wochen ohne sie auskommen. Die Kinder auch. Aber ihre Mutter brauchte sie.
“Komm herein”, bat Vivian. “Ich habe Eistee gemacht.”
Susannah umfasste die schmale Taille ihrer Mutter, und gemeinsam gingen sie hinein. Auf den Stufen lagen Zeitungen herum, die sich immer noch in ihren Schutzhüllen befanden. Das sah ihrer sorgfältigen und ordentlichen Mutter gar nicht ähnlich.
Das Haus sah genauso aus, wie sie es von ihrem letzten Besuch in Erinnerung behalten hatte.
Weitere Kostenlose Bücher