Garten des Lebens
Der Sessel, in dem ihr Vater jeden Abend ferngesehen hatte, stand verlassen im Wohnzimmer. Das gehäkelte Zierdeckchen auf der Rückenlehne lag immer noch unverändert an seinem Platz.
Selbst als ihr Vater schon längst in Pension war, durfte der Fernseher nicht vor den Fünf-Uhr-Nachrichten eingeschaltet werden. George hatte diese Anordnung erlassen, und niemand hatte je gewagt, seine Entscheidung anzufechten – am wenigsten ihre Mutter. Susannah fragte sich, ob Vivian nun, da ihr Mann tot war, auch tagsüber fernsah. Sie glaubte es nicht. Alte Angewohnheiten ließen sich nur schwer ablegen.
Der Küchentisch war mit Tellern und Besteck gedeckt. “Du hast doch kein Abendessen gemacht, oder?”, fragte Susannah.
Ihre Mutter, die am Kühlschrank stand, wandte sich zu ihr um und runzelte die Stirn. “Du hast mir nicht gesagt, dass ich das tun soll.”
“Ich wollte dich nämlich eigentlich zum Essen ausführen – wohin du willst.”
“Oh, gut. Ich dachte schon, ich hätte etwas falsch gemacht.”
“Nein, Mom. Du hast nichts falsch gemacht.”
Ihr Lächeln wirkte so vorsichtig, so unsicher. Nach den langen Jahren ihrer Ehe war ihre Mutter ohne George völlig hilflos. Sie war geradezu abhängig von ihm gewesen. Susannah gab ihr keine Schuld daran, sie machte ihren Vater dafür verantwortlich.
“Setz dich und erzähl mir von den Kindern”, sagte ihre Mutter und zog einen Küchenstuhl für Susannah vor. Der runde Eichentisch war mittlerweile total veraltet und unmodern – genau wie die Stühle.
Vivian ging zur Anrichte und schenkte Eistee in zwei hohe Gläser, die sie anschließend zum Tisch brachte. Dann setzte auch sie sich und blickte Susannah erwartungsvoll an.
Susannah nippte an ihrem Tee. “Brian hat einen Sommerjob in einem Bauunternehmen. Ihm gefällt es, und die Bezahlung ist wirklich gut.”
Ihre Mutter lächelte zufrieden. “Und Christine?”
“Joe holt sie heute vom Flughafen ab.”
Das Lächeln auf Vivians Gesicht wich einem erstaunten Ausdruck. “Sie war weg?”
“In der Schule, Mom. Chrissie geht aufs College und verbringt den Sommer zu Hause.”
“Oh, natürlich. Chrissie geht woanders auf die Schule, stimmt's?”
“Das stimmt. Nach dem Sommer wird sie ins dritte Jahr kommen.”
“Hat sie auch einen Sommerjob?”
Susannah hätte mit dieser Frage rechnen müssen. “Nein, noch nicht, aber ich bin mir ganz sicher, dass sie einen finden wird.” Susannah wurde klar, dass das nicht der Wahrheit entsprach.
Ihre Mutter nickte. “Ja, sie wird schon etwas finden. Sie ist so ein hübsches junges Mädchen.” Susannahs Blick fiel auf das alte Buffet im Wohnzimmer, wo die Familienfotos standen. Sie entdeckte Chrissies Abschlussfoto aus der Highschool. Chrissie lächelte in die Kamera, ihre langen blonden Haare fielen bis über die Schultern. Direkt daneben stand Susannahs Abschlussfoto. Es war nach ihrer Rückkehr aus Frankreich aufgenommen worden war. Auch ihr Haar war lang und blond gewesen, aber lockiger als das von Chrissie. Über die Jahre waren Susannahs Haare nachgedunkelt und mittlerweile hellbraun geworden. Irgendwann hatte sie sie kurz schneiden lassen. Auf ihrem Abschlussfoto trug Susannah Kappe und Mantel und hielt ihr Diplom so vorsichtig in Händen, als wäre es ein wertvolles und unersetzbares ersehntes Schriftstück. Nichts als Show!
“Chrissie ist genau wie du, als du in ihrem Alter warst.”
Susannah blickte wieder auf die beiden Fotos. Sie erkannte kaum eine Ähnlichkeit. Chrissie glich ihr weder im Temperament noch im Aussehen. Ihre Tochter war nun fast zwanzig Jahre alt und hatte immer noch viel zu lernen, bis sie erwachsen sein würde.
“Es sind die Augen”, fuhr ihre Mutter fort.
Susannah sah noch einmal hin – vielleicht auch in der Hoffnung, dass ihre Mutter recht haben könnte. Im letzten Jahr waren sie und ihre Tochter nicht immer einer Meinung gewesen. Dabei ging es um eine ganze Reihe von kleinen Dingen. Susannah glaubte, dass ihre Tochter das Leben nicht ernst genug nahm. Sie strengte sich in der Schule nicht genügend an, verbrachte zu viele Stunden vor dem Fernseher, war jeden Abend mit ihren Freunden unterwegs und schlief dann bis mittags. Chrissie hätte sich um einen Sommerjob kümmern sollen. Doch stattdessen hatte sie die Ferien im Frühjahr in der fälschlichen Annahme vergeudet, sie bräuchte nur mit dem Finger zu schnipsen, um einen Job zu bekommen.
“Dein Haar war auch blond, als du jung warst”, sagte ihre Mutter
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