Garten des Lebens
Geburtstag ihrer Mutter. Susannahs Blick verweilte einen Moment auf der leeren Stelle, wo später der Todestag ihrer Mutter eingetragen werden würde.
Sie stand auf dem Rasen vor dem Grab und fühlte sich steif und unbehaglich. “Hi, Dad”, sagte sie, und ihre Stimme klang wie ein heiseres Flüstern. “Wie geht es dir?” Bei diesem unsicheren Versuch einer Unterhaltung musste sie innerlich lachen. Seit ihrer frühesten Jugend hatte sie ihm nichts mehr zu sagen gehabt. Und auch jetzt, da er fast zwei Meter unter der Erde lag, schien es nicht einfacher zu sein.
“Mom sagt, du hättest ihr geraten, in ein Heim zu ziehen.” Erst am Tag zuvor hatte Vivian ihrer Tochter den Grund für den Sinneswandel verraten.
Susannah strich mit ihrem Schuh über den frisch gesprengten Rasen, der sich nass und sumpfig unter ihren Füßen anfühlte. “Ich glaube, ich schulde dir Dank dafür.”
Sie biss sich auf die Unterlippe und ging zwei Gräber weiter, ohne die Namen der Verstorbenen zu lesen. Sie wollte gehen, wollte zurück zu ihrem Wagen und fortfahren, aber aus irgendeinem Grund konnte sie es nicht. Stattdessen ging sie erneut zu ihrem Vater.
“Weißt du, Dad, es war nicht immer einfach, mit dir zusammenzuleben. Mom hat stets getan, was du wolltest, aber ich konnte das nicht. Ich weiß, dass wir besser miteinander ausgekommen wären, wenn ich nachgegeben hätte, aber … ich konnte es nicht.”
Ihr Vater war ein zäher Mann gewesen, unnachgiebig und kompromisslos. Das musste er auch sein, wenn er auf dem Richterstuhl saß und sich mit Verbrechern und zwielichtigen Gestalten auseinandersetzte. Es war kein Wunder, dass ihr Vater unnahbar geworden war – besonders nach Dougs Tod.
George Leary hatte seinen Sohn vergöttert, und nach Dougs Tod schien es, als sei die Sonne aus dem Leben des Vaters verschwunden. Die Beziehung zu seiner Tochter hatte diesen Verlust nicht auffangen können. Ihr Verhältnis war schon vor dem tödlichen Unfall angespannt gewesen und hatte sich danach noch verschlechtert. Die Wahrheit war, dass ihr Vater sie nicht so sehr geliebt hatte wie Doug.
Diese Erkenntnis traf Susannah wie ein Schlag. Schmerz durchflutete sie, und Susannah rang nach Luft. Sie ballte die Hände zu Fäusten. Genau so war es, obwohl sie es zuvor nie hatte wahrhaben wollen. Doug, sein heiß geliebter Sohn, war tot, und sie hatte für ihn eine denkbar schlechte zweite Besetzung abgegeben.
Es mochte abgedroschen klingen, aber mit Dougs Tod war dieser Zweig der Familie Leary ausgestorben. Ihr Onkel Henry hatte nie geheiratet, und Onkel Steve war im Zweiten Weltkrieg ums Leben gekommen. So war nur noch Doug übrig geblieben, um den Familiennamen weiterzutragen, doch er war gestorben. Und damit waren auch die Hoffnungen ihres Vaters erloschen.
Sie war nun fünfzig Jahre alt, und erst heute wurde sie sich dieser Tatsache bewusst. In einer ihrer letzten Unterhaltungen hatte Joe vorgeschlagen, dass Susannah einen Psychologen aufsuchen sollte, um den Tod ihres Vaters aufzuarbeiten. Damals hatte sie den Vorschlag strikt abgelehnt. Doch jetzt glaubte sie, es sei vielleicht von Nutzen, über ihre Gefühle zu sprechen.
“Damals, als du gestorben warst, dachte ich, alles wäre für uns beide vielleicht leichter gewesen, wenn wir uns nur mehr Zeit genommen hätten, miteinander zu reden … alles zu besprechen”, flüsterte sie. “Ich wollte dir sagen, wie leid mir alles tut, und jetzt … jetzt frage ich mich, ob es überhaupt gut gewesen wäre. Du warst so verbohrt, so selbstgerecht.”
Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie wischte sie fort, wütend, dass ihr Vater sie auch jetzt noch so weit bringen konnte. “Ich wollte mit dir reden, aber ich wusste, dass es unmöglich war.”
Susannah lief um seine Grabstelle herum, und die über Jahre angestauten Gefühle von Zorn und Frustration kochten in ihr hoch. “Nicht einmal nachdem ich aus Paris zurückgekehrt war, konnten wir eine anständige Unterhaltung führen. Hat dich das nicht gestört? Ich war das einzige Kind, das dir noch geblieben war. Wolltest du mich nicht kennenlernen?”
Sie schloss die Augen und wartete, dass der Schmerz in ihrem Herzen nachließ. “Ich frage mich, ob dir aufgefallen ist, wie selten Joe und ich nach Colville gekommen sind. Hast du dich jemals gefragt, warum? Nein, ich denke, dass hast du nicht getan.”
Susannah hatte auf der Beerdigung ihres Vaters nicht geweint. Joe behauptete, ihr Vater hätte sie geliebt, aber Susannah glaubte es
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