Garten des Lebens
Kleid kam nicht zum Vorschein. In einer Hutschachtel fand sie ein Tagebuch, das ihre Mutter im Jahre 1951 zu führen begonnen hatte – kurz nachdem Doug geboren war. Der Kunstlederumschlag war in all den Jahren rissig geworden. Das Buch hatte ein kleines Schloss, zu dem jedoch der Schlüssel fehlte. Susannah versuchte trotzdem, es zu öffnen, und tatsächlich sprang das Schloss auf, als wolle das Tagebuch seine Geheimnisse mit jemandem teilen.
Sie hielt das offene Buch lange in ihren Händen und fragte sich, ob sie sich erlauben durfte, es zu lesen. Schließlich entschied sie, dass es zu persönlich sei, und legte das Tagebuch auf die Kommode.
Wahrscheinlich erinnerte sich ihre Mutter gar nicht mehr daran, je ein Tagebuch geführt zu haben – doch sicher war das nicht, denn manchmal fielen Vivian wirklich die merkwürdigsten Dinge wieder ein.
Nachdem Susannah den Schrank ausgeräumt und Kleider und Schuhe in Kisten für die Wohlfahrt gepackt hatte, brauchte sie eine Pause. Susannah wurde klar, dass dies erst der Anfang gewesen war – im Schlafzimmer befanden sich noch zwei Truhen, Regale, eine Kommode … Die meisten Sachen hatte ihre Mutter seit Jahren nicht mehr getragen.
Susannah wollte sich gerade einen Tee machen, als das Telefon klingelte.
“Mom!”, rief ihre Tochter aufgeregt. “Wo ist das Currypulver?”
“Wofür brauchst du Curry?”
“Für ein Rezept”, erwiderte Chrissie. “Ich habe den Kochkanal gesehen und wollte Curryhuhn machen, aber dazu brauche ich Currypulver, und ich muss es
jetzt
hinzufügen.”
Susannah biss sich auf die Zunge, um nicht zu sagen, dass man zur Zubereitung von Curryhuhn natürlich Curry brauchte und Chrissie eben früher hätte nachschauen sollen. “Sieh auf dem Regal neben dem Kühlschrank nach.”
“Das habe ich schon. Da ist es nicht. Es ist wichtig, Mom. Das Abendessen ist ruiniert, wenn ich kein Curry finde.”
Chrissies Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass die Welt untergehen würde, wenn sie nicht in den nächsten dreißig Sekunden das Currypulver fände.
“Sieh auf dem Regal darüber nach. Wenn ich Curry habe, dann müsste er dort sein.”
“Okay.” Das Wort klang gedämpft, so als habe Chrissie den Hörer zwischen Kopf und Schulter geklemmt.
Susannah konnte hören, wie Dosen und Flaschen hin und her geschoben wurden und schließlich Chrissie einen kleinen Jubelschrei ausstieß. “Danke, Mom. Bis dann.” Damit war das Gespräch zu Ende.
“Gern geschehen”, murmelte Susannah, als sie den Hörer auf die Gabel legte. Dies war das erste Zeichen von Begeisterung und Freude, das sie seit Chrissies Ankunft zu Hause miterleben durfte. Joe hatte sich bisher noch nicht zu den Plänen seiner Tochter, nach Colville zu reisen, geäußert. Doch Chrissie schien sich in der Zwischenzeit damit abgefunden zu haben, zu Hause zu bleiben. Und für Susannah war das völlig in Ordnung. Auch wenn sie in Colville Unterstützung gut gebrauchen konnte, so befürchtete sie doch, dass Chrissie keine große Hilfe sein würde.
Als sie einen Kessel Wasser aufsetzte, um endlich Tee zu kochen, fühlte Susannah mit einem Mal so etwas wie Stolz, weil ihre Familie sich auch ohne sie gut zurechtfand. Die Kinder wurden erwachsen und übernahmen mehr Verantwortung.
Susannah setzte sich an den Küchentisch und wartete darauf, dass der Tee fertig gezogen hatte. Da fiel ihr das alte Tagebuch wieder ein. Obwohl sie sich wegen ihrer Neugierde unbehaglich fühlte, holte sie das Buch aus dem Schlafzimmer und legte es vor sich auf den Tisch.
Unsicher rieb Susannah mit ihren Fingern immer wieder über das kleine Schloss. Sie war unglaublich neugierig, was ihre Mutter wohl geschrieben hatte, und gleichzeitig befürchtete sie, dass dieses Buch ihr Geheimnisse über die Eltern verraten würde, die sie vielleicht gar nicht wissen wollte. Sie hatte kein Recht, es zu lesen. Es gehörte ihrer Mutter. Doch dann fiel Susannah ein, dass Vivian ohne Erlaubnis auch ihr Tagebuch gelesen hatte – kurz bevor Susannah auf das Internat in Frankreich gekommen war. Wenn sie jetzt Vivians Tagebuch las, war das nur fair, entschied sie und unterdrückte die aufkommenden Schuldgefühle.
Susannah schlug die Seiten auf. Das Tagebuch war gewissenhaft über fünf Jahre geführt worden – jeden Tag ein paar Zeilen, als sei ein Tag, an dem sie nichts notierte, ein verlorener Tag. Für die Eintragungen hatte Vivian einen Füllfederhalter benutzt. Die blaue Tinte war etwas verblasst, jedoch noch immer gut zu
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