Garten des Lebens
Mittagessen gab es um zwölf, Abendessen um fünf, und nachmittags gab es noch eine kleine Zwischenmahlzeit.
Sie sah, dass sich einige Bewohner im großen Raum neben dem Eingang aufhielten. Ein älterer Herr saß am Klavier und spielte Broadway-Stücke. Fünf Frauen, davon zwei in Rollstühlen, nickten mit den Köpfen zur Musik. Eine weitere Frau im Rollstuhl war eingeschlafen.
Susannah bemerkte enttäuscht, dass ihre Mutter nicht dabei saß. Es würde helfen, wenn sie wenigstens den Versuch unternehmen würde, die anderen kennenzulernen – doch bisher hatte Vivian keinerlei Interesse gezeigt.
Entschlossen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um ihrer Mutter die Eingewöhnung zu erleichtern, betrat Susannah den langen, mit Teppichboden ausgelegten Flur, der zum Apartment ihrer Mutter führte. Vivians Tür war verschlossen. Susannah klopfte leise an und betrat das Zimmer, ohne auf eine Antwort zu warten.
Vivian saß in ihrem Lieblingssessel vor dem Fernseher. Sie hatte Susannah den Rücken zugewandt.
“Sie können das Tablett mitnehmen”, murmelte ihre Mutter, ohne sich umzudrehen.
Susannah sah, dass Vivians Essen unberührt auf einem kleinen Tisch in der Nähe der Tür stand.
“Mom.”
“Oh, Susannah …” Sie drehte sich in ihrem Sessel um. “Ich dachte, es wäre das Mädchen.”
“Du hast gar nichts gegessen.”
Etwas schwerfällig stand ihre Mutter auf. Um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, hielt sie sich mit einer Hand an der Rückenlehne des Sessels fest. “Ich hatte keinen Hunger.”
“Warum nicht?” Susannah betrachtete die Minestrone und den Obstsalat. Alles sah appetitlich aus. Die Mahlzeiten im
Altamira
waren gut und hatten nichts mit dem Essen zu tun, das man sonst in öffentlichen Einrichtungen erwartete.
“Ich bin einfach nicht hungrig”, murrte Vivian. “Dein Vater hat mir gesagt, ich solle hierherziehen, aber ich mag es hier nicht.”
“Setz dich hin, und ich bringe dir dein Essen.”
Ihre Mutter nahm wieder vor dem Fernseher Platz. Susannah stellte das Tablett auf ein kleines Tischchen neben dem Sessel und reichte Vivian den Teller mit den Früchten. “Ich werde die Suppe in der Mikrowelle aufwärmen”, sagte sie.
Tatsächlich aß ihre Mutter alles auf. Kurz darauf kam eine Pflegerin und holte das Tablett ab. In der nächsten Stunde saßen Susannah und ihre Mutter schweigend nebeneinander und sahen sich Gameshows an.
“Mom”, sagte Susannah, als
Jeopardy
vorbei war. “Ich wusste gar nicht, dass du Krankenschwester werden wolltest.”
Ihre Mutter sah sie an. “Wer hat dir das erzählt?”
“Ich, äh … ich habe etwas gelesen, was du geschrieben hast – während ich deinen Schrank ausgeräumt habe”, erklärte sie hastig und verschwieg, dass es sich bei dem “Etwas” um das Tagebuch ihrer Mutter handelte.
“Ja, ich hatte es eine Zeit lang in Betracht gezogen”, gab Vivian zu. Die Worte kamen zögerlich über ihre Lippen.
“Warum bist du es dann nicht geworden?” Susannah empfand Mitleid für ihre Mutter, bemühte sich jedoch, es sich nicht anmerken zu lassen.
Vivian dachte einen Augenblick lang über die Frage nach. “Dein Vater hielt es für keine gute Idee, und er hatte recht. Ein paar Jahre später wurde George Richter und unser Leben änderte sich von Grund auf. Er hatte Verantwortung zu tragen – und ich ebenso.”
“Du wärest bestimmt eine großartige Krankenschwester geworden”, sagte Susannah.
Nachdenklich sah Vivian sie an. “Vielleicht wäre ich das tatsächlich geworden. Dein Vater und ich haben mehr als einmal darüber gesprochen, besonders bevor er zum Richter berufen wurde. Er glaubte, dass seine Rolle, seine Position in der Gesellschaft für mich ebenso anspruchsvoll und fordernd sein würde”, fuhr sie fort. “Er bat mich, zu Hause zu bleiben, um mich um euch Kinder zu kümmern. Ich beugte mich der Entscheidung. Es war nicht die richtige Zeit, um eine berufliche Laufbahn zu starten, und später … später entschloss ich mich, bei ihm zu bleiben und ihn zu unterstützen. Für George da zu sein und seine Karriere mitzutragen war mir wichtiger. Es bedeutete, dass ich auch für euch da sein konnte.”
“Bereust du es?”
Vivian lächelte. “Keine Sekunde lang. Jeder trifft in seinem Leben Entscheidungen, Susannah. Dein Vater hat gut verdient, und wir hatten das Glück, dass ich nicht unbedingt arbeiten musste. Für mich war es ein Segen – das glaube ich noch immer. Ich habe ja ehrenamtlich in der Blutbank gearbeitet
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