Gartenschläfer: Der zweite Fall für Franca Mazzari (German Edition)
Menschen zu und verwandelte innerhalb von Sekunden Leben in Tod. Im Fernsehen hatte sie Bilder gesehen von Pompeji. Bilder von Menschen, die zu Ascheskulpturen geworden waren.
Sie blinzelte die Bilder fort. Ein träges Auf und Ab der Lider, bei dem sich die Nudelreste bewegten und sich in Maden verwandelten. Sie drückte mit dem Daumen darauf, um diese unnützen Lebewesen zu töten, die sich vergeblich abmühten, ihr kleines, sich windendes Dasein zu retten.
Als sie die geschwollene Zunge vorschob und versuchte, sich über die aufgesprungenen Lippen zu lecken, zuckte sie zusammen. Noch immer war die Wunde nicht abgeheilt, die das Piercing hinterlassen hatte.
Die Luft im Raum war abgestanden. Es roch nach Verdorbenem. Sie sollte lüften und diesen Dreck wegmachen. Jetzt gleich.
Nachher würde sie alles aufräumen, das Bett frisch beziehen, abwaschen, putzen. Wenn Karim zurückkam, würde er sich wundern.
»So schön sauber war es aber schon lange nicht mehr. Richtig gut sieht das aus.« Seine lobenden Worte hallten in ihrem Ohr. Worte, nach denen sie lechzte. Wie ein Hund an einem heißen Tag nach Wasser.
Sie wird sich nicht unterkriegen lassen. Sie nicht!
Ab heute würde alles besser werden. Schöner Gedanke eigentlich. Aber ob Karim wirklich der Richtige war, mit dem alles besser werden würde? Schnell schob sie den Zweifel beiseite. Schließlich war Karim der Einzige, mit dem sie es schon eine ganze Weile aushielt. Und er mit ihr. Wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass es nicht leicht war, mit ihr auszukommen. Irgendwann packte sie der Teufel, dann konnte sie sich selbst nicht leiden und giftete alle und jeden an, obwohl sie das eigentlich gar nicht wollte. Warum gelang es ihr nicht, ganz normal zu sein? So wie alle anderen.
Aber was war schon normal?
Unwillkürlich musste sie an dieses Mädchen in der Mittagstalkshow neulich denken, die von der Mutter als Baby in ein Heim gegeben worden war. Nun standen sie sich zum ersten Mal seit Jahren gegenüber – und das vor laufenden Kameras. Die Mutter, eine fette, ungepflegte Kuh, machte sich keifend wichtig und beschwerte sich bei der Talkmasterin lautstark über die nichtsnutzige Tochter. Die Tochter saß zusammengesunken im Zuschauerraum. Ein verängstigtes Mädchen. Die Kamera schwenkte zu ihr hin, gierig auf ihren Schmerz und die Tränen in ihren Augen gerichtet. Mit jeder ihrer hilflosen Gesten bettelte sie um die Liebe dieser kalten Frau, die sie geboren hatte und die mit ihrer gesamten Haltung erkennen ließ, wie scheißegal ihr dieses Mädchen, ihre eigene Tochter, war.
»Ich interessiere mich nicht für die da!«
Es klang wie Hohn. Die da. Die geht mich nichts an. Und das Kind von der schon mal gar nicht. Den Namen des Enkelkindes? Warum sollte ich den wohl kennen?
Buhrufe im Zuschauerraum. Die Fette guckt erstaunt ins Publikum.
»Is doch so, oder nicht?«
Lilly rollte die Zunge um die Metallkugel. Ein Schmerz durchfuhr sie, der eine scharfzackige Linie mitten durch ihren Körper schnitt und dessen Ausläufer sie bis in die Gliedmaßen hinein spürte. Ein starkes Gefühl, das alles andere auszublenden vermochte.
Sie war das Mädchen im Zuschauerraum. Sie weinte deren Tränen. Obwohl sie mit der Geschichte dieses Mädchens nichts zu tun hatte. Wirklich nichts. Ihre Mutter war immer da gewesen, während diese Mutter dort im Fernsehen ihre Tochter verlassen hatte, als sie klein war. Sie kümmerte sich einfach nicht – und fand das total in Ordnung.
»Mein eigen Fleisch und Blut? Was soll das denn sein? Nur weil die da irgendwann aus mir herausgekrochen ist? Wer hat mich denn gefragt, ob ich so was überhaupt will?«
Und immer dieser Triumph in den Augen. Eine erwachsene Frau, die sich gebärdete wie ein rotziger Teenager.
Auf der anderen Seite das Mädchen, ihre Tochter. Mit all den stummen Schreien in den flehenden Augen.
Aber warum ging ihr, Lilly, das alles so nah? Sogar jetzt noch, in der Erinnerung. Sie musste aufpassen. Durfte sich nicht andere Schicksale zu eigen machen.
Ob ihre Mutter manchmal an sie, Lilly, dachte? Sie sah eine kleine, dickliche Frau vor sich mit selbstgestrickter Jacke und einem im Nacken geknoteten Kopftuch mit Rosenmuster. Im ausgemergelten Gesicht ein unsicheres Lächeln. Seit ewigen Zeiten hatte Lilly nichts mehr von ihr gehört. Wie es ihr wohl gehen mochte?
»Eine Frau muss tun, was der Mann sagt.« Das waren ihre Worte. Sich stets im Hintergrund haltend, folgte sie ihrem Mann überallhin. Bis ans Ende
Weitere Kostenlose Bücher