Gartenschläfer: Der zweite Fall für Franca Mazzari (German Edition)
geöffnete Tür.
»Tut mir leid, Mama. Ich muss gleich wieder los.«
»Du willst wirklich nichts essen?«
»Du weißt, dass ich dein Bollito misto sehr mag. Aber die Arbeit ruft.«
»Habt ihr einen neuen Fall?«, fragte die Mutter. Franca wusste nicht recht, ob es echtes Interesse war oder einfach nur höfliche Konversation. Wie man es früher mit der Kundschaft tat. Lächeln und ein paar nette Worte – das war die Zauberformel ihres Vaters gewesen. Für die Stammkundschaft in seinem Delikatessenladen offenbar genau das richtige Rezept, denn man kam gern zum Italiener in den Entenpfuhl. Ihre Mutter, die manchmal aushalf, hatte sich angepasst. Viel Zeit für die kleine Franca war nie gewesen. Stets ging die Arbeit vor. Aber sie hatte sich immer geliebt gefühlt. Vielleicht von ihrem Vater ein kleines bisschen mehr als von ihrer Mutter.
»Ein toter junger Mann. Wir wissen noch nicht viel«, beantwortete sie die Frage ihrer Mutter.
»Hier in Koblenz?«
»Nein«, sagte sie. »In Andernach.« Noch bevor ihr die Tragweite des Ortsnamens bewusst wurde, war er bereits ausgesprochen. Sie behielt ihre Mutter im Blick. Wie sie wohl darauf reagierte?
»So, in Andernach«, sagte ihre Mutter mit diesem spröden Klang in der Stimme, den Franca kannte.
Sie standen sich gegenüber, Mutter und Tochter. Franca hatte nie mit ihrer Mutter reden können über die schrecklichen Wochen, die dem Tod ihres Vaters gefolgt waren. Diesem Gefühlswust aus Trauer, Verlust und Verzweiflung. Damals hatte sich ihre Mutter aus dem Leben zurückgezogen und in ihrer eigenen Welt eingesponnen, zu der sie niemandem Zutritt gewährte. Auch nicht ihrer Tochter, die ebenso unter dem plötzlichen Verlust ihres geliebten Vaters litt und nicht wusste, wohin mit ihrem Schmerz. In dieser Zeit war ein Bruch durch Francas Leben gegangen, der nie wieder gekittet werden konnte. Während ihre Mutter in der Landesnervenklinik in Andernach behandelt wurde, wie der damalige Name der heutigen Rhein-Mosel-Fachklinik lautete, wurde Franca von einer älteren Tante betreut. Sie hatte diese Zeit der Einsamkeit so gut es ging verdrängt, als sie aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen worden war und Vater und Mutter zugleich verloren hatte. Die Zeit heilte nicht alle Wunden. Sie bedeckte sie höchstens mit Schorf, der jederzeit von Neuem aufbrechen konnte.
»Franca, ich würde gern noch was anderes mit dir besprechen«, begann ihre Mutter zögerlich und sah sie unsicher an. »Das hier« – ihre Mutter machte eine ausholende Handbewegung, die Haus und Garten mit einschloss – »wird mir alles zu viel.« Abwartend blickte sie Franca an.
O nein, dachte sie, nicht jetzt. Nicht dieses Thema.
»Ein anderes Mal, Mama. Ich muss jetzt wirklich los«, sagte sie. »Aber bald komme ich wieder vorbei, dann reden wir in Ruhe.«
»Das sagst du immer«, erwiderte ihre Mutter leise. Die Enttäuschung war ihr deutlich anzumerken. »Du weißt doch, ich werde nicht jünger.«
»Irgendwann werden wir Zeit dafür finden, ja?« Sie strich ihr über die knittrige Wange, die sich ganz weich anfühlte. »Mach’s gut, Mama.«
Schon einmal hatte ihre Mutter ihr den Vorschlag gemacht, zu ihr ins Haus zu ziehen. Ein Vorschlag, der Franca Kopfzerbrechen bereitete. Keine Frage, ihr Elternhaus lag in einer wunderschönen Umgebung inmitten eines Hanges, der sich zum Rhein hinunterzog. Den Fluss selbst konnte man von hier aus nicht sehen, nur erahnen. Die Nachbarhäuser waren umgeben von gepflegten Vorgärten. Es war ruhig hier. Eine schmale Straße mit breiten Bürgersteigen sorgte dafür, dass die Autos langsam fuhren. Über die vielfach mit Schiefer gedeckten Häuser hinweg bemerkte Franca die kleine Kirchturmspitze, die zum Kloster Bethlehem gehörte. Sie musste lächeln, als sie daran dachte, wie sie früher der festen Überzeugung gewesen war, das Jesuskind sei ganz in der Nähe ihres Elternhauses geboren worden.
Als einzige Tochter fühlte sie sich für ihre Mutter verantwortlich, natürlich. Aber ihr Leben war weitergegangen und das ihrer Mutter war stehen geblieben. Eine Rückkehr in dieses Haus würde einen Rückschritt bedeuten. Einen Rückschritt in Enge und Abhängigkeit. Aber vielleicht auch in eine gewisse Art von Geborgenheit. Das musste gut gegeneinander abgewogen werden.
Hinter ihr fiel das Gartentor ins Schloss.
23
Hinterhuber trat scharf auf die Bremse. Ein anderer Autofahrer hatte ihn geschnitten und dabei nur knapp verfehlt. »Du Idiot, pass doch auf!« Wütend drückte
Weitere Kostenlose Bücher