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G.A.S. - Die Trilogie der Stadtwerke

G.A.S. - Die Trilogie der Stadtwerke

Titel: G.A.S. - Die Trilogie der Stadtwerke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Ruff
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Inside-Informanten - oder Advocatus Diaboli -für ihr Referat abgeben. Aber als sie ihm einen Besuch abstatten wollte, mußte sie feststellen, daß der Flur, der zu seinem Zimmer führte, gerammelt voll mit erzürnten Frauen war, die »We Shall Overcome« sangen.
    »Was für eine Blasphemie hat er denn diesmal begangen?« fragte Joan.
    »Andrea Dworkin«, erklärte ihr die Vorsängerin. »Kerrigan hat Beschwerde dagegen eingelegt, daß sie nächste Woche auf dem Campus spricht, und es heißt, er droht das gleiche zu tun, wenn Alice Walker versucht, im Dezember herzukommen.«
    »Was denn für eine Beschwerde? Wie kann er jemandem verbieten, in einer Uni eine Rede zu halten?«
    »Es ist die neue Diskussions- und Empfindlichkeitsverordnung, die der Harvarder Studentenausschuß letzten Donnerstag in geheimer Sitzung erlassen hat«, schaltete sich eine zweite Sängerin ein. »Sie verbietet studentischen Organisationen, Gastredner einzuladen, deren Anwesenheit eine für eine beliebige, aufgrund ihrer Rassenzugehörigkeit, ihres Geschlechts, ihrer körperlichen Behinderung, ihrer sexuellen Ausrichtung oder eines sonstigen Unterdrückungskriteriums unterdrückte Gruppe spürbar feindselige Atmosphäre schaffen könnte.«
    »Kerrigan«, sagte eine dritte Sängerin, »behauptet, Dworkins Auftritt würde eine für weiße männliche Heterosexuelle feindselige Atmosphäre schaffen.«
    »Und welches Genie hat sich diese Empfindlichkeitsverordnung überhaupt einfallen lassen?« fragte Joan.
    »Ich«, sagte die Vorsängerin. »Sie stellt einen wichtigen Schritt in der Evolution der fortschrittlichen Gesellschaft dar, aber Kerrigans Aktion ist eine totale Umkehrung ihrer eigentlichen Intention.«
    »Naja«, sagte Joan, »Intention hin oder her, wenn du das Ungetüm durchgepaukt hast, dann ist Kerrigan formal gesehen im Recht. Andrea Dworkin schafft in der Tat eine für weiße männliche Heterosexuelle feindselige Atmosphäre; das ist mit eins der Dinge, die sie so interessant machen. Natürlich könnte ein Mann, der ihren Essay über die Infibulation des Penis als brauchbare Form der Straßenjustiz gelesen hat, diesbezüglich anderer Meinung sein ...«
    »Aber die Verordnung bezweckt eine Gewährleistung der Toleranz durch die gezielte Privilegierung von Angehörigen unterdrückter Gruppen. Weiße männliche Studenten sind nicht unterdrückt.«
    »Aber wenn du ihnen als einziger Gruppe das Recht absprichst, als bedrohlich empfundene Meinungsäußerungen zu zensieren, dann sind sie unterdrückt.«
    »Schau«, sagte die Vorsängerin, »offenbar kapierst du es einfach nicht. Wenn jede Gruppe jedem Redner, von dem sie sich angegriffen fühlt, den Mund verbieten kann, selbst Rednern mit der korrekten Einstellung, dann gibt's sehr bald überhaupt keine Redner mehr. Durch eine so undifferenzierte Anwendung wird die Verordnung wertlos.«
    »Das könnte uns sogar zwingen, sie wieder außer Kraft zu setzen«, fügte die zweite Sängerin hinzu.
    »Übrigens«, sagte die dritte Sängerin und tippte mit einem schneidezahnmanikürten Zeigefinger auf die rechteckige Ausbeulung von Joans Hosentasche, »laß dir ja nicht einfallen, hier drin zu rauchen. Das ist ein asoziales Verhalten, und wir werden es nicht dulden.«
    Für Joan, die normalerweise jede feindselige Atmosphäre als eine willkommene Herausforderung ansah, war diese letzte Bemerkung eine klare Kampfansage, und die Tatsache, daß das selbstgerechte Herummoralisieren der Sängerin sie ein bißchen an sich selbst erinnerte, machte die Provokation nur um so schlimmer. Archie Kerrigans Sinn fürs Subtile war jedoch ansteckend, weshalb Joan, anstatt ihrerseits ideologisch vom Leder zu ziehen und sich auf eine polemische Messerstecherei einzulassen, sich selbst und ihre Zigaretten zum nächsten öffentlichen Fernsprecher verfügte und einen Mithäretiker aus der Harvard-Red-Rc dakf:ion anrief. In Kirkland Hall, informierte Joan ihn, seien ein paar Frauen, deren Ansichten einer möglichst breiten Öffentlichkeit zur Kenntnis gebracht werden sollten; der ÄecZ-Redakteur versprach, umgehend jemanden mit einem Tonbandgerät vorbeizuschicken. In der Zwischenzeit umging Joan die chorische Warteschlange, indem sie sich von Ellen Leeuwenhoek einen Strick und von Lexa die Idee borgte und sich an der Außenfront des Wohnheims vom Dach aus abseilte.
    Es erwartete sie ein Vöyeurinnenparadies. In der Annahme, daß er durch eine längere Belagerung gezwungen sein würde, für eine ganze Weile das Zimmer zu

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