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G.A.S. - Die Trilogie der Stadtwerke

G.A.S. - Die Trilogie der Stadtwerke

Titel: G.A.S. - Die Trilogie der Stadtwerke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Ruff
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gehört hatte. Er nahm an, daß er sich in Anbetracht der Ereignisse der letzten Woche eigentlich Sorgen um sie hätte machen sollen, aber etwas sagte ihm, das sei gar nicht nötig: Joan war einfach nicht der Typ, bei einem Erdbeben umzukommen, und da er einmal miterlebt hatte, wie sie einen Handtaschenräuber windelweich geprügelt hatte, konnte Harry den Mann - oder den Automaten -, der sich einbildete, sie mit Gewalt kleinkriegen zu können, nur bemitleiden.
    Und abgesehen davon deuteten alle Indizien in die andere Richtung. Donnerstag nacht war Joans Freundin Kite ihren Verletzungen erlegen, klammheimlich abgetreten, während Gant und eine halb bewußtlose Vanna sich den Kopf darüber zerbrachen, wie sie sie zweihundert Treppen tiefer schaffen sollten. Zu guter Letzt hatten sie eine Methode gefunden, die Fensterputzerplattform ohne Strom hinunterzulassen - eine luftige Erlebnisfahrt, auf deren Wiederholung Harry nicht den allergeringsten Wert legte aber bis sie den Bürgersteig erreicht und einen Krankenwagen angehalten hatten, war es längst zu spät gewesen; Kite wurde an Ort und Stelle für tot erklärt. Dann aber war am Freitag vom städtischen Leichenschauhaus die Nachricht gekommen, sie sei verschwunden. Sie haben die Leiche bestimmt nur verlegt, dachte Flarry zuerst. Mit den ganzen Erdbebenopfern muß es da zugehen wie auf dem Hauptbahnhof. Aber als Vanna einen Mitarbeiter beauftragte, persönlich ein paar Erkundigungen einzuziehen, stellte sich heraus, daß Kite doch nicht verlegt worden war: Sie war aufgestanden und gegangen. Der Leichenbeschauer hatte sich nur rasch einen Berliner geholt, und als er zurückgekommen war, hatte er einen leeren Seziertisch und eine abgestreifte Zehenkarte vorgefunden; blutige Fußabdrücke führten vom Kühlraum über den Korridor zum gerichtsmedizinischen Labor (wo es Streichhölzer gab) und von da zu einer Treppe, die auf die Straße führte.
    Wenn also solche Sachen abliefen, würde Harry keine Zeit damit vergeuden, sich um Joan zu sorgen; er wünschte bloß, sie würde sich melden.
    Er war jetzt ans äußerste Westende der 34dl Street gelangt, zu den Flafenanlagen. Wie der East River, roch der Hudson heute gar nicht so übel; viele größere und kleinere Fabriken des Hinterlandes waren wegen nötiger Reparaturarbeiten geschlossen worden, und sogar der Fäkalienausstoß des Staclt hatte infolge der vielen geborstenen Wasserleitungen abgenommen. Als er sich nach einer geeigneten Stelle zum Frühstücken umsah, entdeckte Gant eine altmodische Holzpier, die in den Fluß hineinragte. Er ging hinaus bis an die Spitze und setzte sich so hin, daß seine Beine über dem Wasser baumelten; er schlug seine Zeitung auf, öffnete sein Coke und nahm einen Bissen von seinem Sandwich.
    Er wollte gerade den zweiten Bissen nehmen, als er den Alligator bemerkte. Die Pier war mit alten Risten und anderem maritimen Gerümpel übersät; ein paar Armlängen von dort, wo Harry saß, lag ein umgekipptes Stahlfaß, dessen offenes Ende in seine Richtung wies. Er war davon ausgegangen, es sei leer, aber jetzt erregte ein kratziges Atmen seine Aufmerksamkeit, und er sah, daß in dem Faß ein kleines Albinoreptil zusammengerollt saß und zu ihm hinauslugte.
    »Hm«, sagte Harry Gant. »Hm.« Der Alligator veränderte leicht seine Haltung; das Licht der Morgensonne berührte die Spitze seiner Schnauze und betonte die Blässe seiner Haut. Alligator manhatlicus, dachte Harry Gant und hörte die Stimme seines Vaters in seinem Kopf. Alligator manhatticus, der sagenhafte Manhattaner Kanalligator, den viele Forscher für ausgestorben, wenn nicht gleich gar für ein Märchen hielten. Aber Jerry Gant wußte es besser - und jetzt auch Harry.
    »Magst du Thunfisch?« fragte er unsicher. Der Kopf des Alligators hob sich, und ein dumpfes Gefühl riet Harry, das Sandwich aus der Hand zu geben. Er warf es mit einem leichten Aufwärtsschwung, wie einen Softball, dem Tier zu. Der Alli spritzte unglaublich schnell nach vorn; Gant erhaschte gerade einen kurzen Blick von Kaumuskeln und Zähnen, und dann war das Sandwich weg. Es war gar nicht erst mit dem Boden in Berührung gekommen.
    »Hm«, sagte Harry. Der Alligator stand jetzt direkt neben ihm, schnüffelte an seinem Oberschenkel und an den Rändern der Zeitung, die auf seinem Schoß lag; mit einemmal war er froh, daß er nicht statt der Post den eßbaren LongDistance Call gekauft hatte. »Immer sachte«, sagte er, als der Alligator an seiner Hose schnoberte.

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