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G.A.S. - Die Trilogie der Stadtwerke

G.A.S. - Die Trilogie der Stadtwerke

Titel: G.A.S. - Die Trilogie der Stadtwerke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Ruff
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er alles wörtlich nahm. »Ich bin nicht für Einfühlsamkeit konzipiert. Ich bin für Risikofrüherkennung konzipiert.« Er klatschte wieder mit dem Schwanz. »Risikofrüherkennung und visuelle Sprachrezeption.«
    Visuelle Sprachrezeption. Das war der Haken, die Sache, die FREUND Biber mit seinem Babysitter gehabe zu einem notwendigen Übel machte. Seraphina konnte nicht lesen. Nicht eben ein seltenes Phänomen im Jahre 2023, aber in ihrem Fall hatte es biologische Ursachen. Möglicherweise irgendwelche chromosomenzerhackenden Schadstoffe in der Luft von Philadelphia, in der Uni Pennsylvania, wo ihre Mutter ihren Vater erstmals aus seinem Amischen-Gehrock gelockt hatte, oder vielleicht ein verdorbener Hot dog beim Wiedersehenspicknick, in dessen Verlauf es, rund neun Jahre später, zu Seraphinas Zeugung gekommen war. Ihr Hör- und ihr Sprechvermögen waren normal ausgebildet, und ihr Wortschatz war überdurchschnittlich groß, aber ihrem Gehirn fehlte die erforderliche synaptische Konfiguration, um graphische Zeichen mit einer Bedeutung zu verbinden. Mosel Kazenstein, der in Albuquerque tätige Neurologe, der die damals siebenjährige Seraphina in der Wüste untersucht hatte, diagnostizierte auf Sorbonne- Dyslexie mit ausgeprägter kortikaler Dysplasie.
    »Was heißt das?« hatte Seraphina ihn gefragt.
    »Das heißt, daß du nicht lesen kannst«, erwiderte Mosel. Er drückte ein paar Knöpfe an dem tragbaren Computertomographen, den er mitgebracht hatte. »Eine angeborene organische Mißbildung deines optischen Sprachzentrums bewirkt, daß du außerstande bist, bestimmte Arten von visuellen Symbolen, wie Buchstaben und Zahlen, in den Griff zu bekommen.«
    »Mein Dad bekommt Adjektive nicht sehr gut in den Griff.«
    »Das klingt eher nach einem Disziplinproblem«, sagte Mosel. »Dein Problem ist organischer Natur.«
    »Können Sie das in Ordnung bringen?«
    »Ich fürchte, nein. Chirurgisch-plastische Eingriffe an der Großhirnrinde sind noch immer neurologische Zukunftsmusik. Aber mit ein bißchen Geschick kannst du lernen, dich um deine Behinderung herumzumogeln. Du könntest es zum Beispiel mit Blindenschrift versuchen, also mit nichtvisuellen Symbolen, oder mit irgendeinem System von nicht allzu abstrakten Ideogrammen. Und natürlich gibt es allerlei technische Hilfsmittel, die es dir ermöglichen können, bei Bedarf auch mit konventionellem Textmaterial fertig zu werden.«
    »Technische Hilfsmittel?«
    Mosel zeigte mit dem Daumen auf seinen Neffen Morris. »Krimskrams«, sagte er.
    Daher also FREUND Biber, der Schilder und Etiketten für sie las und die Bücher, die sie aus der Bibliothek benötigte, mit einer Leichtigkeit ausfindig machte, mit der kein Handlesegerät auch nur im mindesten konkurrieren konnte; und FREUNDin Eichkätzchen, die ihr aus dem Schlamassel half, wenn sie mal wieder FREUND Bibers Verhaltensmaß regeln ignoriert hatte. FREUND stand für »Fürsorglicher Regenerative-Energiequellen-Unterstützter Nagetierförmiger Datenverarbeiter«, auch wenn es Morris einige Mühe gekostet hatte, Seraphina zu erklären, was ein Akronym sei: »So etwas wie Erfinderlyrik«, sagte er schließlich. Seraphina liebte Lyrik.
    Um das Privateste Lesezimmer Von Allen betreten zu können, mußte man den Türgriff auf eine ganz bestimmte Weise anfassen, eine weitere Spielerei der Herren O'Donoghue und Kil-lian, die Seraphina längst in Fleisch und Blut übergegangen war. Innen war der Boden mit glatten Steinplatten belegt, so daß man, wenn man nur auf seine Füße hinuntersah oder mit geschlossenen Augen auf der spartanisch-sybari tischen, mit Gänsedaunen und Wolfsfellen belegten Bettstatt lag, sich vorstellen konnte, man sei wirklich im Studierzimmer eines wahnsinnigen irischen Mönches. Hob man allerdings die Augen, konnte man nicht umhin, das Fenster zu sehen, das eine ganze Wand des Zimmers einnahm - und draußen, direkt vor dem Fenster, war Madagaskar: der aufgeblähte Stamm eines Affenbrotbaums, der, an seiner dicksten Stelle nur von zehn Männern zu umspannen, den Blick auf die und von der Straße vollkommen versperrte. Der Baum hätte eigentlich eine (als Sichtschutz ebenso taugliche) Kerry-Weide sein sollen, aber in der Städtischen Baumschule hatte es eine kleine Verwechslung gegeben, und so war statt dessen dieser klimaangepaßte Baobab geliefert worden. Als man den Fehler bemerkt hatte, saßen die Wurzeln des Baobab bereits unverrückbar tief unter dem Bürgersteig der Stadtbücherei, und jetzt mußten

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