Gassen der Nacht
Bei ihr trat dieses Leiden sowohl am Tage als auch in der Nacht auf.
Am Tag fühlte sie sich matt, kaputt, als hätte sie wie irre gearbeitet. Bei Einbruch der Dämmerung änderte sich dies. Da fühlte sie sich wie gedopt. Sie wurde agil, sehr aktiv, sie hätte alles unternehmen können, als wäre ihr Blut gegen prickelnden Champagner ausgetauscht worden. Aber Paula wußte auch, daß der Dämmerung eine Nacht folgte, in der sie für nichts garantieren konnte. Als Kind hatte die heute Zweiundvierzigjährige immer über die Menschen gestaunt, die von ihrer Mondsüchtigkeit berichteten und davon, daß sie in der Nacht aufgewacht und schlafgewandelt waren.
Das war als Kind gewesen.
Heute dachte sie anders darüber, denn seit einiger Zeit reagierte sie ebenso. Auch sie gehörte zu den mondsüchtigen Personen, die in der Nacht aufstanden und umherwandelten.
Im Anfang hatte sie sich gewundert, daß sie manchmal neben ihrem Bett aufgewacht war. Später hatte sie sich im Nebenraum wiedergefunden, auch mal im Flur, dann sogar auf dem Hof, zitternd vor Kälte und zusammengekauert.
Da erst war ihr richtig klar geworden, unter welch einem Schicksal oder Krankheit sie litt. Es war ein regelrechter Schock für sie gewesen. Im Laufe der Jahre hatte sie sich daran gewöhnt, doch in der Zeit vor dem Vollmond überfiel sie immer wieder die Angst und sie wurde schlimmer, je näher diese Zeit heranrückte. Jetzt war wieder Vollmond!
Sie hatte ihn von ihrem Fenster aus gesehen. Paula Devine wohnte in der letzten Etage des Hauses, praktisch in einer Dachkammer, wo die Wände schräg waren und die Fenster in Dachgauben eingebaut werden mußten. Auch in ihrem Alter noch wandelte sie herum, und sie fürchtete sich am meisten davor, aufzuwachen, das Fenster zu öffnen, auf das Dach zu steigen und in die Tiefe zu fallen.
Paula Devine lebte allein. Sie war nie verheiratet gewesen. Das Geld zum Leben verdiente sie sich schon seit Jahren in der nahen Fischfabrik und hatte es im Laufe der Jahre bis zur Vorarbeiterin gebracht. Sehr oft hatte sie mit dem Gedanken gespielt, aus der Gegend wegzuziehen, es aber immer gelassen, denn zu ihrer Arbeitsstelle war es nicht sehr weit. Sie konnte sie ohne Fahrzeug erreichen. Und die beiden Zimmer unter dem Dach waren groß genug. Zudem hatte sie sich auf eigene Kosten ein kleines Bad einbauen lassen.
Mit ihrer Figur war sie nie zufrieden gewesen. Immer hatte sie sich als zu dick empfunden, aber dafür hatte sie auch keine Falten, was ihrem runden Gesicht guttat, das sie selbst oft genug mit dem Anblick eines Vollmonds verglich.
»Der Speck muß weg!«
Wie oft hatte sie diesen Satz gesagt, auch diverse Diäten ausprobiert, die natürlich Erfolg zeigten, aber die Pfunde, die sie dabei verlor, waren schnell wieder drauf.
Sie aß halt zu gern…
Ihr Haar hatte eine Farbe, die zwischen Blond und Rot lag. Es war sehr dünn, und Paula machte das Beste daraus, indem sie es zurückkämmte und im Nacken verknotete.
Ihr Wohnung hatte sie so hübsch wie möglich eingerichtet, und es gehörte bei ihr schon zur Tradition, daß sie sich die letzten beiden Wochen des Jahres in der eigenen Wohnung aufhielt und da ein paar faule Tage verbrachte.
In ihrem Leben hatte es einige Beziehungen gegeben, aber das war nie sehr tief gegangen. Sie kam ganz gut allein zurecht. Wenn sie Unterhaltung brauchte, dann spielte sie mit dem kleinen Tiger Frechdachs, so hatte sie ihren Kater genannt.
Es ging ihr recht gut, wenn da nur nicht diese verdammte Krankheit gewesen wäre.
Vollmond eben…
Sie ängstigte sich davor. Schon am Nachmittag stand sie am Fenster und schaute in den Himmel. Da war er dann als blasse Scheibe zu sehen, die hinter den Wolken schimmerte. Hier an der Küste gab es nicht viele dickwolkige oder neblige Tage, zumeist fegte der Wind die Wolken weg. Wenn der Himmel dann aufriß und der Mond richtig leuchten konnte, war es besonders schlimm. Da spürte sie dessen Kraft, die Paula schon deshalb als grausam empfand, weil sie das Gefühl hatte, von ihr übernommen zu werden. Sie wurde dann zu einer anderen Person, zu einem Schattenwesen, das einfach nur neben ihr stand. Wieder war der Himmel klar.
So verflucht klar und sie wußte, daß der Mond in der folgenden Nacht besonders stark scheinen würde. Schon jetzt kribbelte es in ihrem Körper, als hätte ein Blutaustausch stattgefunden, und sie war voller Unruhe in ihrer Wohnung auf-und abgegangen.
Bis der Besucher gekommen war.
Der Mann hatte sich als Inspektor
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