Gast im Weltraum
vor seinem Innenleben halt. Hier liegt eine unüberschreitbare Grenze. Wir selbst achten darauf, denn wir betrachten die Innenwelt jedes einzelnen als unantastbares, ja als das höchste gemeinschaftliche Gut. Dort darf man nicht eindringen – auch nicht mit Methoden, die das Leben ,erleichtern‘. Aus dem bescheidensten, schüchternsten Versuch würde ein gefährlicher Präzendenzfall. Wir würden mit der Beseitigung kleiner Charakterfehler und Schwächen, einer Art ,psychischer Retusche‘, beginnen und bei dem Mischen und Umformen der psychischen und geistigen Eigenschaften enden. Und das hieße ein Mosaik aus einzelnen Steinchen zusammenfügen.“
„Ich glaube, ich muß dir recht geben“, sagte Nils. „Aber eine unglückliche Liebe verursacht doch Leiden, nicht wahr? Ich habe zwar noch nichts dergleichen empfunden oder erlebt, meine aber, daß nutzlose Gefühle…“ „Nutzlose Gefühle?“ fiel Ameta ihm ins Wort. „Es gibt keine nutzlosen Gefühle, mein Lieber. Mißerfolge, Leiden, Trauer sind unbedingt notwendig. Das ist weder eine Phrase noch ein Lob oder eine Billigung des Märtyrertums. Dadurch, daß wir Hindernisse und ernste Schwierigkeiten überwinden, wachsen wir, werden wir größer. Die Befriedigung von Wünschen und Gelüsten, die sich nicht im Menschen und mit dem Menschen entwickeln, kann mehr Schaden als Nutzen bringen. Die Erzieher wissen, daß man die kindlichen Wünsche und Träume formen, bilden und ihre Erfüllung hinausschieben muß; denn gerade dadurch entstehen im Menschen richtungsbedingte Spannungen, die sehr wertvoll sind, da sie die unsichtbaren Träger des heranreifenden Charakters sind. Der Mensch erreicht mehr im Leben, je weitere Ziele er sich steckt. Es ist kein Zufall, daß an Bord der Gea bereits Pläne für ausgedehnte Weltraumflüge ausgearbeitet werden. Du sagtest ,nutzlose Gefühle‘. Denke an Pjotr. Das, was er erlebte und erlitt, brannte sich so tief und fest in seine Seele ein, daß es unversehrt blieb, während alle anderen Erinnerungen ausgelöscht wurden. Nur auf diese Weise blieb ihm etwas Eigenes, zu dem er, blind und zum Schweigen verurteilt, zurückkehren, sozusagen heimkehren konnte. Wenn er sich auch an nichts mehr erinnerte, so konnte er doch das eine sagen: ,Ich habe geliebt‘, und das ist sehr, sehr viel. Nun werden sich um diese eine Erinnerung andere sammeln. Wäre es anders, dann läge in seiner Rückkehr ins Leben etwas Unmenschliches. Er wäre wie ein Automat, der auf Befehl alles vergißt und dann leer ist wie ein unbeschriebenes Blatt Papier. Ein Mensch, der wirklich alles vergessen würde, wäre eine entsetzliche Erscheinung. Er würde jede Individualität verlieren, und das Wort ,Ich‘ wäre auf seinen Lippen nur ein leerer Klang. Deshalb sind selbst die schwersten Leiden nicht unnötig oder wertlos. Man muß allerdings überwinden, aber überwinden bedeutet nicht ablehnen.“
Als die Gefährten auf brachen, sagte Nils: „Ich glaube, Professor Schrey, daß ich jetzt mehr über die Liebe weiß als jener Marsbewohner von der Musik.“
Der alte Chirurg blieb noch bei mir. Wir schwiegen. Schrey hatte, wie in tiefes Nachdenken versunken, die Augen geschlossen. Als er sie öffnete, blitzten sie lebhaft in dem Halbdunkel, das uns umgab. Mit einer Stimme, so weich, wie ich sie niemals bei ihm gehört hatte, sagte er: „Kennst du die Wälder Thüringens? Und die weiten, weißen Wege, die in das ebene, windüberwehte Land hinausführen? Tagelang kann man dort wandern und sich abends die Hände über einem Herd wärmen… Die Zweige knistern im Feuer… Der Rauch zieht niedrig über die Häuser hin…“
„Das kannst du doch jederzeit im Video sehen, wenn du willst, jetzt gleich, bei mir“, antwortete ich.
Schrey zwinkerte, als hätte er plötzlich in grelles Licht gesehen, und stand auf. „Ich brauche keine Erinnerungsprothesen“, erwiderte er trocken und ging.
Die Revolte
Das dritte Jahr der Reise war das schwerste, vielleicht gerade deshalb, weil keine bedeutenden Ereignisse eintraten. Die Warnsignale schwiegen. Die Gea hatte ihre volle Geschwindigkeit erreicht; in jeder Sekunde legte sie 170000 Kilometer zurück, ihre Flugbahn entsprach ungefähr der Achse, die den Nordpol und den Südpol der Milchstraße verbindet. Alle Einrichtungen unseres Raumschiffes arbeiteten so einwandfrei, daß wir gar nicht mehr darüber nachdachten. Die Luft zum Atmen, Lebensmittel, Wasser, Kleider, Gegenstände des täglichen Bedarfs und Dinge, die den
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