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Gast im Weltraum

Gast im Weltraum

Titel: Gast im Weltraum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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sind – sogenannte Silikolipide –, existieren können. Auf diese Schlußfolgerungen gestützt, suchte ich das allgemeingültige Gesetz, das die Genesis aller Lebensformen lenkt, die auf den Millionen Planetensystemen des Kosmos entstehen können. Es ist nicht möglich, eine solche Theorie auf experimenteller Grundlage aufzustellen, da wir nicht die leiseste Ahnung haben, wie solche unbekannten Organismen entstehen. Der einzig gangbare Weg war daher die induktive Methode auf Grund der Gesetze, die im ganzen Kosmos gültig sind, das heißt der Gesetze der toten Materie. Bekanntlich wurde, um den Ablauf der Lebensprozesse in irdischen Organismen widerspiegeln zu können, ein neuer, mathematisch behandelter Zweig der Biophysik, die sogenannte Biotensorik, geschaffen. Ich stellte mir die Aufgabe, ihre mathematischen ‚Verwandten‘ zu finden, und kann sagen, daß dies unserem Kollektiv nach jahrelanger Arbeit gelungen ist.“
    Wieder glitt ein Geräusch, einem dumpfen Seufzer ähnlich, wie eine leichte Welle über die Versammelten hinweg.
    Goobar notierte die erste Formel, hielt den Kopf schräg, betrachtete sie eine Weile und schrieb sehr rasch weiter. Eine Gleichung ergab sich aus der anderen. In der Totenstille, die im Saal herrschte, knirschte nur stumpf die Kreide. Von Zeit zu Zeit fiel ein abgebröckeltes Stückchen zu Boden. Allmählich bedeckten schwer lesbare Zeichen die ganze Tafel. Ich hatte längst den Faden der Beweisführung verloren und vermochte ihre Fortschritte nur nach dem Verhalten der Wissenschaftler zu erkennen und zu beurteilen. Die meisten hatten sich anfangs Notizen gemacht; aber nun legten sie ihre Behelfsrechenautomaten beiseite, beugten sich vor, verfolgten jeden neuen Ausdruck, runzelten hin und wieder die Stirn und lächelten plötzlich erleichtert, als entdeckten sie mitten unter lauter fremden Menschen ein bekanntes Gesicht. Die Spannung im Saal wuchs. Dieser und jener packte mit beiden Händen das Schreibpult, als wollte er aufstehen und hätte es doch mitten in dieser Bewegung bereits vergessen. Tembhara, der in der Reihe vor mir saß, befeuchtete mit der Zunge die trockenen Lippen, und seine Nachbarin Dshakandshan legte die Hände flach an die Schläfen, als wollte sie sich von allem abschließen, was mit der ständig wachsenden Schlange von Gleichungen, die schließlich über den Rahmen der Tafel hinausreichte, nichts zu tun hatte. Goobar zögerte nicht eine Sekunde und schrieb auf der Mahagonileiste weiter, bis er den ersten Teil seiner Beweisführung beendet hatte.
    „So, und nun ändern wir die Exponenten.“
    Er drückte auf einen Kontakt. Die vollgeschriebene Tafel wurde mechanisch in die Höhe geschoben. An ihrer Stelle senkte sich eine andere, eine leere Tafel herab. Goobar blies den Kreidestaub von den Fingern und schrieb weiter. Plötzlich hielt er inne, neigte von neuem den Kopf schräg, wie ein Vogel, betrachtete die Formel und sagte mit etwas heiserer Stimme: „Und nun setzen wir überall homogene Felder darunter und erhalten…“ Er notierte eine kurze, zweistellige Gleichung. „Wie ihr seht, beweist diese Formel, daß alle Lebensprozesse aufhören, wenn die kritische Geschwindigkeit überschritten wird. Mit anderen Worten – es muß der Tod eintreten.“
    Ein gedämpftes Seufzen, wie aus einer einzigen, riesigen Brust, erschütterte die Luft. Unbeirrt sprach Goobar weiter: „Das steht fest. Der Tod ist unvermeidbar. An diesem Punkt endet die Beweisführung. Lange sah ich keinen Ausweg, es schien keine andere Lösung zu geben. Das ist aber nicht der Fall. Ich überlegte: Was geschieht, wenn man das Problem auf den Kopf stellt, wenn man die allgemein gebräuchliche Methode verläßt und nicht vom Leben, sondern vom Tod her an diese Frage herangeht, wenn man den durch die große Geschwindigkeit getöteten Organismus als gegeben annimmt und ihn in eine niedrigere Geschwindigkeit überführt?“
    Goobar wandte sich wieder der Tafel zu, wischte einige Zeichen mit dem Ärmel aus, schrieb und sprach gleichzeitig weiter: „Setzen wir noch einmal konstante Felder ein… und nun die Gargansche Transmutation… und wir erhalten…“
    Goobar umrahmte die Formel mit dicken Strichen. Die Kreide hatte sich noch nicht von der schwarzen Tafel gelöst, als ein unterdrückter Aufschrei aus vielen Kehlen erklang. Ich blickte wie gebannt in den Saal. Die Mechanoeuristen, Biologen, Mathematiker sprangen von ihren Plätzen auf. Weit vorgebeugt, stützten sie sich schwer auf die Pulte

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