Gast im Weltraum
und starrten mit leuchtenden Augen auf die Tafel.
Goobar wischte sich die großen Schweißtropfen von der Stirn, wandte sich uns zu und fuhr fort, als bemerkte er nicht, was rings um ihn geschah: „Wie ihr seht, ist der bei Überschreitung der kritischen Geschwindigkeit eintretende Tod abwendbar. Wächst die Beschleunigung langsam, so stirbt der Organismus allmählich ab. Die zerfallenden Enzyme vergiften und zerstören die Gewebe: Die Zersetzung beginnt. Wird die kritische Geschwindigkeit aber plötzlich überschritten, dann wird die gesamte molekulare Struktur des Organismus sozusagen außer Betrieb gesetzt, stillgelegt. Geht man ebenso plötzlich zu einer niedrigeren Geschwindigkeit über, dann setzen alle Funktionen der Gewebe wieder ein, wie das Pendel einer Uhr, das man eine Zeitlang angehalten hat, von neuem schwingt, wenn es einen Stoß erhält. Welche Beschleunigung muß einem Organismus verliehen werden, damit er beim Überschreiten der kritischen Geschwindigkeit in die Zone des abwendbaren Todes gelangt? Die Formel sagt, daß sie zweihundertmal größer sein muß als die Erdbeschleunigung, mit anderen Worten: Der Organismus wird das Zweihundertfache der ruhenden Masse, der Mensch also ungefähr fünfzehn Tonnen wiegen. Diese Beschleunigung tötet ihn nicht, wenn sie nur den winzigen Bruchteil einer Sekunde auf ihn einwirkt. Mehr brauchen wir nicht. Auf diese Weise können wir, bildlich gesprochen, die Barriere der Grenzgeschwindigkeit überspringen. Und die weiteren Perspektiven? Stellen wir uns vor, wir haben eine Rakete mit menschlicher Besatzung, die nahezu die kritische Geschwindigkeit erreicht hat und nun mit einem Ruck zu einer höheren Geschwindigkeit übergeht. In diesem Augenblick tritt eine fast vollständige Hemmung aller Lebensfunktionen ein. Wir können also sagen, daß die Menschen in der Rakete den Tod fanden. Aber er ist selbst nach sehr langer Zeit ‚rückgängig‘ zu machen, wenn die Rakete ebenso plötzlich von der überkritischen zu einer unter der kritischen Grenze liegenden Geschwindigkeit übergeht. Die Menschen erwachen dann wieder zum Leben. Ich betone nochmals: Der Zustand der Abwendbarkeit des Todes – oder, wenn euch das mehr zusagt, einer Art tiefster Lethargie – kann beliebig lange währen, das heißt, Hunderte oder auch Tausende von Jahren, da in einer Rakete, die sich zum Beispiel mit einer Geschwindigkeit von 999 –– bewegt, der Ablauf der Zeit praktisch aufhört, denn alle Lebensprozesse
1000 hören auf und damit auch der Prozeß des Alterns. Eine solche Rakete kann Expeditionen in beliebig weit entfernte Teile des Weltalls unternehmen. Und wenn eine solche Reise hunderttausend Jahre dauerte – ans Ziel würden dieselben Menschen gelangen, die von der Erde aufgebrochen sind, und nicht ihre späten Nachkommen. Diese Menschen werden weder dem Altern noch den Beschwernissen und Mühen der Reise unterworfen sein. Die riesige Zeitspanne wird für sie nicht existieren, da sie in dieser Zeit nicht bei Bewußtsein sind. Wie ihr seht, ergeben sich hier ungleich weitere Perspektiven, als wenn wir tatsächlich lebend, ohne Hemmung des Zeitablaufs, reisen könnten; denn in diesem Falle müßte sich die Dauer der Reise stets innerhalb der Grenze des Lebens einer Generation bewegen. Wir dürfen also mit Recht sagen, daß die Natur uns außerordentlich wohlgesinnt ist.“
Goobar machte eine kurze Pause. „Diese neue Art von Reisen in das Weltall“, fuhr er fort, „muß bedeutende und wichtige psychosoziologische Konsequenzen haben. Es handelt sich nämlich um das erste uns zugängliche Mittel, den Zeitablauf und damit das Altern unseres Körpers beliebig zu hemmen. Es ist ein Mittel, mit dessen Hilfe der in der Lethargie des abwendbaren Todes versunkene Mensch ganze Epochen überspringen und die fernste Zukunft erleben kann. Unendlich viele Probleme ergeben sich daraus, ich will aber nur eines berühren. Eine Gruppe von Menschen, die einen solchen Flug in die Galaxis unternimmt, kehrt nach einigen hundert oder, sagen wir, sogar tausend Jahren auf die Erde zurück. Diese Menschen haben die menschliche Gesellschaft in einem bestimmten Entwicklungszustand verlassen, sie sind in einer bestimmten Kulturform aufgewachsen und erzogen worden, haben ihre Gewohnheiten, ihre Liebhabereien auf dem Gebiet der Kunst, im täglichen Leben, ihre Vorliebe für diese oder jene wissenschaftliche Arbeit und so weiter. Sie kehren nun in eine Gesellschaft zurück, die ihnen völlig fremd ist,
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