Gast im Weltraum
gezwungen waren, ihm seine Vergangenheit ins Gedächtnis zu rufen, das er seit der Katastrophe verloren hatte.
Pjotr war völlig apathisch, man konnte alles mit ihm machen, er leistete keinerlei Widerstand. Er ließ sich wie ein Kind an der Hand führen. Anna widmete ihm viel Zeit, Sorge und Mühe. Häufig sah ich sie mit ihm zwischen den Gartenbeeten auf und ab gehen. Sie hielt ihn an der Hand, er folgte ihr gehorsam und versuchte, seine Schritte den ihren anzupassen. Sie redete auf ihn ein, zeigte ihm Blumen, nannte ihre Namen; aber an seiner steinernen Ruhe und Teilnahmslosigkeit glitt alles ab.
Schließlich war es soweit. Schrey ordnete die entscheidende Untersuchung an. Das große Gehirnfernsehgerät hatte einen Defekt, den ich nicht selbst beheben konnte. Ich mußte mich deshalb mit dem Zweiten Astrogator in Verbindung setzen, dem die Automaten des technischen Bereitschaftsdienstes unterstanden. Ich fand ihn nicht gleich. Er hatte gerade seinen Dienst beendet und den Steuerraum verlassen. Die Informatoren konnten mir auch nicht helfen. Ich irrte durch das ganze Schiff und stöberte ihn endlich in einem von den Zentraldecks weit entfernten Winkel auf. Der Korridor mündete hier in den weiten Vorraum vor dem kleinen Musiksaal. Lancelot Grotrian stand vor einer Säule und betrachtete die weiße Statue, die sich mitten in dem sonst leeren Raum erhob. Ich trug ihm meine Bitte vor. Unser Gespräch war sachlich, beinahe trocken. Aber das weiße Marmorkunstwerk warf etwas von seinem Zauber über die dürren Worte und füllte den Raum mit seinem Glanz.
Auf einmal wurde unsere Unterhaltung lebhafter, wärmer. Wir gingen auf und ab, und unsere Schritte hallten in dem kleinen Saal wider, verstärkt durch das Echo in der muschelförmigen Wölbung, die den Raum deckt. Ich weiß nicht, wie es geschah – jedenfalls blieben wir gleichzeitig vor dem Bildwerk stehen. Es stellt einen jungen Menschen dar, der nach einer langen Wanderung rastet. Sein Gesicht wirkt auf den ersten Blick alltäglich – ja… aber wie ein nebliger Märzmorgen mit nackten, regenfeuchten Bäumen unter einer blassen Frühsonne, und doch voll Erwartung der kommenden, reichen Reifetage des Sommers… So ist dieses Gesicht, ganz dem Warten auf die Erfüllung aller, auch der größten Verheißungen hingegeben und ihnen aufgetan. Grotrian sagte, diese Statue sei ein Werk der Bildhauerin Soledad. Da fiel mir ein kleines Ereignis ein, das sich einige Wochen zuvor zugetragen hatte. Ich traf die Bildhauerin im Garten. Sie saß auf dem Gipfel des Hügels. Ein wirkliches, altes Buch lag auf ihren Knien. Ich fragte sie, was es für ein Buch sei. Sie antwortete nicht, hob nicht einmal den Kopf, sondern begann laut zu lesen: „Sie sagten also: ,Wie ist es dir gegangen?‘ – ,Gut‘, erwiderte er. ,Ich habe viel gearbeitet.‘ – ‚Hattest du Feinde?‘– ,Sie konnten mich bei der Arbeit nicht hindern.‘ – ,Und Freunde?‘ – ,Sie verlangten von mir, daß ich arbeite.‘ – ,Ist es wahr, daß du viel gelitten hast?‘ – ,Ja‘, antwortete er, ,das ist wahr.‘ – ,Was hast du da getan?‘,Ich habe mehr gearbeitet, das hilft.‘“
„Von wem handelt das Buch?“ fragte ich. Sie nannte mir den Namen eines Bildhauers des Altertums. Dann wandte sie sich wieder ihrer Lektüre zu und vergaß meine Anwesenheit.
Ich erzählte Grotrian diese Geschichte und fragte ihn, ob er der Meinung sei, daß die Teilnahme an der Expedition für die Bildhauerin von Nutzen sein könnte.
„Ich glaube, ja“, antwortete er. „Es ist sehr schwer, auf der Oberfläche eines Marmorblockes das zu gestalten, was tief in den Menschen verborgen liegt. Man muß verschiedene Wege suchen und gehen. Mancherlei kann man über einen Menschen erfahren, der in die Sterne schaut.“
Ich betrachtete das Gesicht des Astrogators, in dem sich die Zeichen des Alters bemerkbar machten. Die schlaffen Wangen hingen schwer herab. Die Augen unter den ergrauten Brauen waren wie von einem feinen Herbstnebel verschleiert. Als er aber bei seinen letzten Worten den Blick voll auf mich richtete, da hatte ich den seltsamen Eindruck, als wäre er jünger als ich.
Am Abend kamen wir drei Ärzte im Operationssaal zusammen. Der noch immer völlig apathische Pjotr wurde auf einen Metalltisch gebettet. Da geschah etwas Unerwartetes. Als Schrey die breiten Platten der Elektroden, die um den Kopf des Kranken gelegt werden sollten, herunterzog, verhüllte Pjotr plötzlich sein Gesicht mit den Händen. Diese
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