Gauck: Eine Biographie (German Edition)
Was »sozial gerecht« war, galt für die Mehrheit als gut und richtig. Demgegenüber musste die Freiheit oft hintenanstehen. Es konnte nicht ausbleiben, dass Gaucks Engagement für Freiheit im linken Teil der Gesellschaft auf Ablehnung stieß. Wo die »soziale Gerechtigkeit«, mit anderen Worten die Umverteilung von Wohlstand, den höchsten Stellenwert genoss, musste die Freiheit nachrangig sein. Friedrich Schorlemmer, Pfarrer und Oppositioneller in der DDR , sprach vielen Gleichgesinnten aus dem Herzen, wenn er über Gauck urteilte: »So überzeugend er über Freiheit reden kann, so wenig überzeugt mich, dass Gerechtigkeit fast ausgeblendet bleibt. Manche seiner Äußerungen über die Schwachen in unserer Gesellschaft empören mich geradezu.«
Dem hielt Gauck entgegen, dass die Gerechtigkeits- und Sozialstaatsdebatte in Deutschland nicht unterrepräsentiert sei. Er legte keinen Wert darauf, dem Zeitgeist gerecht zu werden. Er und seine Familie waren in Unfreiheit aufgewachsen, das war die alles entscheidende Erfahrung und Prägung seines Lebens gewesen. Er hatte sich in der DDR als »Insasse« gefühlt, »festgehalten und eingeschlossen wie die Insassen eines Pflegeheims, einer Krankenanstalt, einer geschlossenen Station, eines Gefängnisses«. Das sollte und durfte sich nie wiederholen, nicht für ihn und auch nicht für alle anderen. 333
Winter im Sommer – Frühling im Herbst
Im Jahr 2009 erschienen Gaucks Erinnerungen unter dem Titel »Winter im Sommer – Frühling im Herbst«. Viele Verlage hatten zuvor bei ihm angefragt, ob sie seine Memoiren verlegen dürften. Er hatte immer abgelehnt, offiziell mit der Begründung, dass er keine Zeit dafür habe, eine Autobiographie zu schreiben. Der wirkliche Grund aber waren innere Widerstände gegen dieses Projekt. Die Erinnerungen an die Trennung von seiner Frau, die Ausreise seiner Kinder aus der DDR und die Entfremdung von ihnen bedrückten ihn lange Zeit, so dass er sich nicht entschließen konnte, sich diesen Themen zu öffnen. Als er sich nach langem Zögern doch dazu durchgerungen hatte, erklärte er: »Das Buch war eine Möglichkeit, mein Leben noch mal zu reflektieren, was ich damals so nicht beabsichtigt hatte. Ich wäre auch fast gescheitert, weil da etwas in mir war, was gar nicht hinwollte zu den dunklen Kapiteln meines Lebens.«
Das Buch entstand in Zusammenarbeit mit Helga Hirsch. Acht Monate lang stand Gauck seiner früheren Lebensgefährtin dafür als Gesprächspartner zur Verfügung. Teile des Buches schrieb er selbst, insbesondere die markanten Formulierungen stammten von ihm. Das meiste aber erzählte er Helga Hirsch, die es aufnahm, für ihn aufschrieb und den Stoff ordnete. Seine Co-Autorin führte für das Buch Interviews mit Gaucks Kindern und einer Reihe Verwandten. Gaucks Tochter Gesine fand in diesem Zusammenhang Briefe wieder, die der Familienvater an seine Kinder geschrieben und längst vergessen hatte und entdeckte unbekannte Dokumente zur Familiengeschichte. Bereits Gaucks erstes Buch, das er 1991 über die Stasiakten veröffentlicht hatte, war nicht von ihm allein geschrieben 334 worden, sondern entstand mit Hilfe zweier Co-Autoren, Hubertus Knabe und Margarethe Steinhausen.
»Es war ziemlich schwierig«, berichtete Hirsch über die Zusammenarbeit mit ihrem ehemaligen Lebensgefährten, »er ist immer abgehauen und hat sich verdrückt, wenn es um für ihn schwierige Stellen ging.« Privates hätte Gauck im Buch am liebsten ausgespart, und er versuchte, sich selbst und seiner Mitautorin einzureden, das sei nicht wichtig. Vor allem vor dem Kapitel »Gehen oder Bleiben«, bei dem es um die Ausreise seiner Kinder aus der DDR ging, schreckte er immer wieder zurück. »Er hatte Angst, dass da was hochkommt«, war der Eindruck seiner Mitautorin. Gauck selbst bekannte später freimütig: »Ohne Helga Hirsch wäre das Buch nicht fertiggeworden.«
Joachim Gauck ließ sich in dieser Zeit auch psychotherapeutisch beraten, um sich bei der Aufarbeitung der Themen, die er jahrzehntelang verdrängt hatte, professionell helfen zu lassen. Seine Therapeutin gehört zu den Personen, die Gauck in seinem Buches namentlich erwähnt und denen er besonders dankt.
Ihm wurde damals klar, dass er in der Vergangenheit zu oft Gefühle, besonders Schmerz und Trauer, unterdrückt hatte. »Damals habe ich mir die Welt so erklärt«, hatte er sich schon einige Jahre zuvor eingestanden, »dass sie mir keine Schmerzen machte […] Meine Frau, die die emotionale
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