Gauck: Eine Biographie (German Edition)
Integrität besaß, konnte mich nicht verstehen […] Ich habe nicht nur mein Wissen, sondern auch meine Gefühle verloren. Ich hab mich nicht nur von der politischen Realität, sondern auch von meiner Frau entfernt.«
Mitte der neunziger Jahre schrieb er jedem seiner Kinder Briefe und suchte das Gespräch mit ihnen. »Ich wollte meine Beziehung zu ihnen verbessern bzw. intensivieren.« Auch mit seinem Sohn Christian, der ihm am kritischsten 335 gegenübergestanden hatte. Bei der Feier des siebzigsten Geburtstages seines Vaters hielt sein Ältester eine hochemotionale Rede, die Joachim Gauck sehr berührte. »Er hat es doch tatsächlich fertiggebracht, eine lange Rede zu halten, die so warmherzig war und in der er nichts verschwiegen hat von den Problemen, die wir hatten. Das bedeutete für mich Glück.« Gauck ließ sich damals von seinem Ältesten in der Hamburger Klinik, in der dieser arbeitete, untersuchen. Mehrmals im Jahr sehen die beiden sich bei Familientreffen und anderen Anlässen. Heute sagt Christian Gauck über den Familienpatriarchen: »Mein Vater hat viel an sich gearbeitet. Heute sind wir als Familie sehr stolz auf das, was er erreicht hat.« Wenn er den früheren Joachim Gauck mit dem heutigen vergleiche, müsse er sagen: »Das ist ein völlig anderer Mensch!«
Nach anfänglich gutem, aber nicht sensationellem Erfolg explodierten die Verkäufe des Buches im Jahr 2010, nachdem Gauck für das Amt des Bundespräsidenten nominiert worden war. Mehr als eine Viertelmillion Exemplare wurden von seinen Memoiren bislang verkauft. Zudem wurde ihm in diesem Jahr für das Werk der renommierte Geschwister-Scholl-Preis verliehen. Ebenfalls 2010 veröffentlichte Gauck ein weiteres Buch: »Freiheit – Ein Plädoyer«. Es handelte sich dabei um einen Vortrag, den er zu seinem Hauptthema der letzten Jahre gehalten hatte. Auch dieser dünne Band verkaufte sich gut, Gauck blieben der Erfolg und das Glück treu.
Nach dem Erscheinen seiner Memoiren machte er sich auf eine lange Lesereise durch die Republik. Bis heute las er mehr als zweihundertmal öffentlich aus seinen Erinnerungen vor. Routiniert und treffsicher setzte er dabei seine Pointen. »Warum bin ich eigentlich hier?«, fragte er 2012 zu Beginn einer Lesung in Altenkirchen auf Rügen rheto 336 risch. »Ich weiß es nicht. Eigentlich habe ich ja Urlaub.« Die Lacher seiner Zuhörer waren ihm sicher. Gegen Ende sorgte er erneut für Heiterkeit. »Wenn Sie es nicht mehr aushalten, können Sie jederzeit gehen. Sie sind das Volk.« Anfänglich begleitete ihn Helga Hirsch drei oder vier Mal bei seiner Lesereise und übernahm den Vortrag des privaten Kapitels. Für Gauck selbst stellte das öffentliche Lesen dieses Teils am Anfang eine zu hohe emotionale Hürde dar, und er brach dabei in Tränen aus. Sein ältester Sohn Christian erklärte das so: »Während der Arbeit an seiner Autobiographie ist ihm bewusst geworden, was er alles verdrängt hatte, da hat ihn in der Rückschau vieles aufgewühlt, und das tut es manchmal noch heute, wenn er daraus liest.« Später übernahm Gauck das Lesen dieses Parts selbst. Wenn dabei die Gefühle zu stark wurden, machte er eine kurze Pause, atmete durch und las weiter.
Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten
Als Gauck siebzig geworden war, ereignete sich ein weiteres kleines Wunder in seinem Leben. Am 31. Mai 2010 war Bundespräsident Köhler zu Beginn seiner zweiten Amtsperiode völlig unvorhergesehen von seinem Amt zurückgetreten. Vorausgegangen war ein Interview, in dem Horst Köhler den Einsatz von Bundeswehr-Truppen in Afghanistan befürwortet und dies unter anderem mit wirtschaftlichen Argumenten gerechtfertigt hatte. Das provozierte heftige Kritik in verschiedenen politischen Lagern. Von »Kanonenbootpolitik« war die Rede, von einem »präsidialen Fehler« und »extremen Positionen«. Die Vorwürfe gipfelten in der Aussage, der Bundespräsident stehe damit nicht mehr auf dem Boden des Grundgesetzes. Köhler fühlte sich so getroffen und gekränkt von den Angriffen, dass er mit 337 einem politischen Paukenschlag vom Amt des Bundespräsidenten zurücktrat.
Schon drei Tage später nominierte die Regierungskoalition unter Angela Merkel den niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff ( CDU ) als Kandidaten für die Köhler-Nachfolge. SPD und Grüne einigten sich daraufhin auf einen parteiunabhängigen Gegenkandidaten: Joachim Gauck. Der fühlte sich geschmeichelt: »Tja, wer sich jetzt so alles meldet
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