Gauck: Eine Biographie (German Edition)
weiter an der Redevorlage feilte. Als das Werk endlich vollbracht war, wurde eine Flasche Perlwein geöffnet, die sich zufällig im Kühlschrank befand, Helga Hirsch hatte Geburtstag. Am nächsten Morgen brachte sie das Redemanuskript persönlich zu ihrem ehemaligen Lebensgefährten, um sicherzugehen, dass er es vor seiner großen Rede auch wirklich in Händen hielt. Joachim Gauck hatte zu diesem Zug seines Wesens einmal gestanden: »Von Haus aus bin ich nicht besonders der Ordnung verpflichtet.«
Schon drei Tage später, am 26. März 2012, unternahm das neue Staatsoberhaupt seine erste Auslandsreise. Gauck besuchte Deutschlands östlich gelegenes Nachbarland Polen, für ihn eine »Herzensangelegenheit«. Die Worte Herz und Sehnsucht kamen in den ersten Monaten seiner Amtszeit in seinem Vokabular oft vor. Als er sich zum ersten Mal vor Schloss Bellevue den Fotografen stellte, sagte er: »Es pochert hier drin«, und legte dabei die Hand aufs Herz. Bald darauf besuchte er sein »Sehnsuchtsland« Schweden. Und als er Ende Mai zum Staatsbesuch nach Israel flog, war das für den Bundespräsidenten ein »Herzensanliegen«.
44 Bei der Bundeswehr in Afghanistan
Am 30. März 2012 empfingen Bundespräsident Joachim 354 Gauck und Frau Daniela Schadt, so die offizielle protokollarische Bezeichnung für Gaucks Lebensgefährtin, im Schloss Bellevue ihre ersten Staatsgäste, den mongolischen Präsidenten, Tsakhia Elbegdorj und dessen Frau Khajidsuren Bolormaa. Militärische Ehren, roter Teppich, Pressefotos, festliches Staatsbankett, freundliche Worte. »Ich freue mich, dass die Mongolei der Partnerschaft mit Deutschland so hohe Bedeutung beimisst«, sagte der Bundespräsident. Solche der Diplomatie geschuldete Sätze sollte Gauck künftig ständig sagen. Nicht weil er es nicht besser gekonnt hätte, sondern weil Diplomatie auf der Ebene der Staatsoberhäupter eine der zentralen Aufgaben des Bundespräsidenten ist. Ende des Jahres sagte Gauck bei einer Begegnung mit dem afghanischen Präsidenten Karzai in Kabul: »Wir wollen nicht in den Verdacht geraten, dass wir unsere Freundschaft 355 vergessen würden.« Natürlich war sich Gauck dabei darüber im Klaren, dass der Teil der deutschen Bevölkerung, der sich Afghanistan freundschaftlich verbunden fühlte, gegen null tendierte. Aber darum geht es bei der Pflege der Beziehungen zwischen Staaten nicht.
Gesellen- und Meisterstück
Die erste wirkliche Bewährungsprobe des Bundespräsidenten stand Anfang Mai 2012 an, als er seinen Antrittsbesuch in den Niederlanden machte und dort vermintes Terrain betreten musste. Als erster Deutscher sollte Gauck am 5. Mai, dem niederländischen Befreiungstag, in der Liebfrauenkirche von Breda die Rede zum siebenundsechzigsten Jahrestag der Befreiung von den deutschen Besatzungstruppen halten. Das offizielle Thema der Niederlande für diesen Tag lautete: »Vrijheid geef je door« – Freiheit gibt man weiter. Wieder wurde der Entwurf von Gaucks Rede nicht rechtzeitig fertig. Das Manuskript sollte vorab an die Organisatoren in den Niederlanden geliefert werden, damit diese die Rede im Vorfeld drucken und verteilen konnten. Das entsprechende Papier wurde schließlich geliefert – fünf Tage zu spät.
Im Vorfeld von Gaucks geplanter Rede hatte es vereinzelt Widerstand jüdischer Organisationen gegen seinen Besuch gegeben. Hintergrund war der Fall des neunzigjährigen ehemaligen Mitglieds der Waffen- SS Klaas Carel Faber, der in den Niederlanden als Kriegsverbrecher verurteilt worden war, aber unbehelligt in Deutschland lebte, weil die Bundesrepublik dem niederländischen Auslieferungsersuchen nicht stattgegeben hatte. Diese Tatsache war für einige Holländer ein Grund, den Bundespräsidenten als nicht willkommen zu betrachten. Die Rahmenbedin 356 gungen für Gaucks Auftritt in den Niederlanden waren also nicht einfach. Doch der Bundespräsident erledigte die Aufgabe mit Bravour. Mit seiner Rede in der Kirche von Breda erreichte er die Herzen der Niederländer. Am Ende seiner Ansprache erhoben sich die vierhundert geladenen Gäste, um zu applaudieren. Gauck hatte sein Gesellenstück als Bundespräsident abgeliefert.
Sein Meisterstück lieferte der Bundespräsident noch im selben Monat ab. Ende Mai 2012 reiste er auf Einladung des israelischen Präsidenten Schimon Peres zum Staatsbesuch nach Israel. Das Land, in dem die historische Erblast Deutschlands am schwersten wiegt. Reisen bundesdeutscher Politiker in das Heilige Land standen von der
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