Gauck: Eine Biographie (German Edition)
Gründung der Bundesrepublik an immer unter einem besonderen Stern und wurden von den Medien argwöhnisch beobachtet. Es hatte nach dem Krieg vierzig Jahre gedauert, bis 1985 mit Richard von Weizsäcker zum ersten Mal ein Bundespräsident nach Israel reisen konnte. Damals war von einem historischen Wendepunkt in den Beziehungen der beiden Völker die Rede gewesen. Seither hatte der Staatsbesuch in Israel bei allen Bundespräsidenten auf der Liste ganz oben gestanden. Am 16. Februar 2000 durfte Bundespräsident Johannes Rau als erster deutscher Politiker vor der Knesset eine Rede halten. Als Bundespräsident Horst Köhler weitere fünf Jahre später erneut vor dem israelischen Parlament sprach, regte sich in Israel im Vorfeld Protest dagegen, dass Köhler seine Rede auf Deutsch halten wollte, in der »Sprache der Täter«. Bis heute werden die deutsch-israelischen Beziehungen maßgeblich durch die Verbrechen des Nationalsozialismus mitbestimmt.
Es stand vor diesem Hintergrund außer Frage, dass jedes Wort Joachim Gaucks bei seiner Israel-Reise in besonderem Maße abgewogen und jede seiner Gesten noch einmal 357 in Zeitlupe betrachtet werden würde. Einige Wochen später gestand er, dass er diesmal nicht gern in das Land gefahren war, das er zuvor bereits mehrfach als Privatmann bereist hatte. »Ich sah nicht, wie man das grundlegende Problem zwischen Juden und Palästinensern lösen könnte«, erklärte er. »Ich habe diese Hoffnungslosigkeit gesehen. So was lähmt mich, deshalb bin ich nicht gerne hingefahren.«
Gaucks politischer Bewegungsspielraum in Israel war klein, so wie für seine Vorgänger auch. Wie diese besuchte selbstverständlich auch der elfte Bundespräsident in Jerusalem die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, die an die Opfer der Shoa erinnert. Es gelang dem Bundespräsidenten, dort ein Zeichen zu setzen, das über die Pflicht hinausging. Es war nur eine kleine Geste, aber sie erzeugte gewaltige Wirkung. Im Ergebnis konnte Gauck dadurch dem Fundament der deutsch-israelischen Beziehungen einen kleinen, symbolischen Stein hinzuzufügen.
Als er sich in das Gästebuch der Gedenkstätte eintrug, verharrte er sieben ewig erscheinende Minuten vor dem kleinen Stehpult und schrieb. Die Anwesenden mussten in der israelischen Mittagshitze stehen und warten. Der eine oder andere wurde unruhig und fragte sich, warum in aller Welt das Staatsoberhaupt so lange für seinen Eintrag brauchte. Endlich steckte der Bundespräsident seinen Stift ein und las vor, was er geschrieben hatte: »Wenn du hier gewesen bist, sollst du wiederkommen. Zuerst nur: die Flut der Gefühle, erschrecken vor dem Ausmaß des Bösen, mitleiden, mitfühlen, trauern – wegen eines einzigen Kinderschicksals oder wegen der Millionen unschuldiger Opfer. […]«
Für diese symbolhafte Handlung in Yad Vashem wurde Gauck mit Lob geradezu überschüttet. Das Urteil, er habe auf seiner Reise überall den richtigen Ton getroffen, war 358 einhellig. Die Lobeshymnen gipfelten in Sätzen wie, sein Eintrag im Gästebuch habe »literarische Qualität« oder »jetzt ist er wirklich Präsident«. Gauck hätte es bei dem Eintrag bewenden lassen können, ohne ihn vorzulesen. Aber er wollte, dass jedermann erfuhr, was er geschrieben hatte. Es war ein überlegtes, kalkuliertes Signal an die Welt, das seine beabsichtigte Wirkung entfaltete.
Zeichen setzen
Neben der öffentlichen Rede sind symbolhafte Handlungen, das Setzen von Zeichen, das entscheidende Mittel, mit dem ein Bundespräsident politischen Einfluss nehmen und wirken kann. Gerade weil er selbst kaum Entscheidungs- und Gestaltungsmacht hat, wird besonders genau beobachtet und interpretiert, wie er sich in bestimmten Situationen verhält. Eine kühle Begrüßung eines anderen Staatsoberhauptes kann so zur Botschaft, unter Umständen zum Affront werden. Und es hat Bedeutung, ob der Bundespräsident eine Schirmherrschaft übernimmt, einen Orden verleiht oder ob er das möglicherweise demonstrativ ablehnt.
Neben seinem Eintrag im Gästebuch von Yad Vashem versandte Gauck in seinem ersten Amtsjahr eine ganze Reihe derartiger Botschaften. Als der Bundespräsident Anfang Juni 2012 Kreml-Chef Wladimir Putin im Schloss Bellevue empfing, ließ er all seine Herzlichkeit, die ihn sonst auszeichnet, vermissen. Bestenfalls die Andeutung eines Lächelns, ansonsten war Joachim Gauck ungewöhnlich ernst, konzentriert und distanziert. Als er sich im Vorfeld seiner Wahl zum Staatsoberhaupt bei den Grünen
Weitere Kostenlose Bücher