Gauck: Eine Biographie (German Edition)
Alles was die in ihren Zirkeln und Kreisen gemacht haben, das habe ich innerhalb der Kirche auch gemacht.« Er hielt seinen Kritikern entgegen: »Ich muss da nicht sagen, entschuldigen Sie bitte, ich hab zu spät daran gedacht, Oppositioneller zu werden. Das ist eine Missdeutung meiner Laufbahn.« Dass Joachim Gauck kein Umstürzler gewesen war, der vor 1989 die Absicht gehabt hatte, die DDR -Diktatur zum Einsturz zu bringen, stand außer Frage. Aber er war mehr als zwanzig Jahre lang ein erklärter Gegner der SED -Herrschaft gewesen und hatte sie öffentlich, von der Kanzel herab kritisiert. Er erreichte damit regelmäßig Hunderte von DDR -Bürgern und beeinflusste sie. In seltenen Fällen, wie beim Kirchentag 1988, waren es viele Tausende. Das machte ihn zu einem Sämann der friedlichen Revolution. Er hatte jahrelang den Boden beackert, aus dem 1989 die Kraft der Menschen erwuchs, gegen das System aufzustehen. Zu Recht urteilte Christoph Kleemann darum über seinen ehemaligen Amtsbruder: »Er gehörte zu denen, die den Oppositionsgruppen ein schützendes Dach gaben, ohne die kirchliche Arbeit zu gefährden. Den Schutzraum der Kirche haben alle in Anspruch genommen.« 346
Was war es, was Männer wie Tschiche und Lietz gegen Joachim Gauck aufbrachte? Bei einigen war zweifellos Neid im Spiel. Das bittere Gefühl, dass die eigenen Anstrengungen vor und während der friedlichen Revolution nicht richtig gewürdigt worden waren. Die Kränkung, dass einer, der ihrer Meinung nach während der Herbstrevolution 1989 in der zweiten Reihe gestanden hatte, nach der Wende eine beispiellose Karriere machte. Dabei lag dieser Entwicklung nicht Glück und auch kein Zufall zugrunde, sondern sie beruhte auf den unterschiedlichen Begabungen der Akteure. Joachim Gauck verfügte über geniale rhetorische Fähigkeiten, eine herausragende Begabung, die Stimmungen anderer Menschen aufzunehmen und großen persönlichen Mut. Schließlich, aber nicht zuletzt: Immer wieder stellte er auf seinem Weg seine besondere Fähigkeit unter Beweis, andere Menschen zu ermutigen. Heiko Lietz dagegen hatte viel von einem Eigenbrötler und Querulanten. Dietlind Glüer urteilte über ihn: »Kontinuierlich mit anderen zusammenzuarbeiten fiel ihm schwer.«
Ein anderer Grund für die Aggressionen aus dem Lager der Bürgerrechtler gegenüber Gauck war, dass manche der damaligen Akteure mit ihren Ideen von einer gerechteren Welt und einer besseren DDR gescheitert waren. Sie hatten den SED -Staat reformieren wollen, nicht abschaffen, und darum gekämpft, ihre Vision vom »dritten Weg« zwischen Kapitalismus und Sozialismus Realität werden zu lassen. Über allem hatte ein utopisches Element geschwebt.
Die Zurückweisung der eigenen politischen Ziele durch die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung schlug bei einigen in Verbitterung um. »Wir waren nur der Türöffner«, klagte Tschiche Jahrzehnte später resigniert. »Das bundesdeutsche System wollte Leute, die sich anpassten, Gauck ist so, wie sie ihn brauchten.« 347
Schließlich verübelten seine Kritiker aus dem Bürgerrechtslager Gauck, dass er im Laufe der Jahre politisch von links nach rechts gewandert war. Aus dem Pastor, der sich darauf eingerichtet hatte, dauerhaft im Sozialismus leben und sich mit ihm arrangieren zu müssen, war in der Bundesrepublik ein konservativer »Vortragsreisender« geworden. Darüber empörte sich sein Kritiker Tschiche: »Er gehört zu den Typen, die wegen ihres eigenen Erfolges die Nöte vieler anderer gar nicht mehr wahrnehmen.« Ähnlich äußerte sich Camilla Lohmann, die Frau von Gaucks ehemaligem Pastorenkollegen in Evershagen. »Jetzt, schon in den vergangenen Jahren habe ich das Gefühl: Er hat wohl die Bodenhaftung verloren. […] Ich vermisse bei ihm, dass da kein Aufschrei kommt: ›Was läuft hier an sozialer Gerechtigkeit in diesem Staat?‹ […] Freiheit ist für viele nichts, wenn sie gar keine Bewegungsmöglichkeit haben.« Fast die identische Formulierung verwendete Friedrich Schorlemmer: »Mich stört, dass er Freiheit ohne soziale Gerechtigkeit denken kann. Für mich gehört das untrennbar zusammen.«
Joachim Gauck versteht sich selbst allerdings nicht so: »Ich bin, was meine Werte betrifft, eher liberal-konservativ, und links im Hinblick auf Chancengleichheit, Aufstiegsfragen, Bürgerrechte und freie Gewerkschaften.« Er bezeichnete sich damals gern als »Parteiloser, der sich als linker, liberaler Konservativer versteht«. Das war ein Bonmot, das
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